Sofia: Liebe auf den zweiten Blick

Ironisch. ­Relikte aus der Sowjetzeit ­haben keinen guten Stand.
Ironisch. ­Relikte aus der Sowjetzeit ­haben keinen guten Stand.(c) wikimedia/Ignat Ignev (CC BY-Sa 3.0)
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Die bulgarische Hauptstadt Sofia, derzeit im Fokus der EU-Ratspräsidentschaft,
hat eine ambivalente Wirkung: immer unterwegs und überall zu spät.

Sofia, das muss man wissen, ist eine Stadt, die nie ganz fertig geworden ist, denn Zeit blieb einfach nie genug. In diesem Tal, mit dem Ausblick auf den Balkan und im Schatten des Vitosha-Gebirges, weit weg von allen Meeren, wo nicht einmal ein Fluss fließt, da hätte das Schicksal dieser Stadt auch ein ruhiges und stetes sein können, würde man denken. Aber als Mittelpunkt der Balkanhalbinsel, auf halbem Weg zwischen Orient und Okzident, Verbindungsachse zwischen Donau und Ägäis, dem Schwarzen Meer und der Adria, wurde dieser Ort schon vor Jahrtausenden zum Kreuzpunkt von Einflüssen, Schicksalen und Interessen: Römer, Slawen, Hunnen, Goten, Byzantiner und Osmanen. Allen gefielen auch die vielen Thermalquellen, das kann man verstehen. Also kamen sie, der Reihe nach, manchmal sogar auf einmal.

Was blieb, war die Toleranz gegenüber dem Fremden und die Kunst des Überlebens. Osmanenherrschaft, deutsches Königshaus, Aliiertenbombardements, Sowjetbesetzung, 45 Jahre Kommunismus, 25 Jahre Turbokapitalismus, Mafia, Korruption, Naivität und Brüssel – würgen musste sich Sofia schon lassen von den Einflüssen der Zeit. Aber ein bisschen Würgen bringt niemanden um, denkt sich der Sofioter und lebt weiter. In den Tag hinein, das ist seine Spezialität, von Moment zu Moment, von Fest zu Fest. Anlässe gibt es viele – dass man sich zufällig wiedergetroffen hat oder einfach aus einem „Warum nicht?“ heraus. Ist eine Arbeit dringend, dann wird sich schon jemand finden, der sie erledigt. Wird sie nicht erledigt, dann war sie nicht dringend. So tickt die Welt in Sofia.

Belesen. Der  Buchmarkt vor der Stadtbibliothek ist bei jedem Wetter offen.
Belesen. Der Buchmarkt vor der Stadtbibliothek ist bei jedem Wetter offen. (c) flickr/Kyle Taylor (CC BY 2.0)

Da darf man sich nicht wundern, dass hie und da einmal etwas begonnen und nicht fertig wurde. Straßenzüge, Gebäude, U-Bahn, Bezirke, Gehsteige, Abbruch der historischen Altstadt – Fluch und Segen zugleich. Was in Sofia zählt, ist nicht unbedingt die Tat, sondern die Idee. Diese zu entdecken ist die eigentliche Herausforderung eines jeden Sofia-Besuchers.

Streifzug durch Ideen und Momente. Die Wien-Idee verführt den Sofioter seit Langem. Wien und alles Wienerische – danach verlangte es hier. Aus Wien kamen die ersten Architekten, damals um die Wende zum 20. Jahrhundert, in der Blütezeit des neuen bulgarischen Staates. Aus Wien kamen die städtebaulichen Vorbilder, die Architektur und die Möbel. Wiener Kaffeehäuser sind sprichwörtlich in der Stadt. „Wiener Kaffeehaus“ heißen sie, der Name allein suggeriert Qualität. Das Nationaltheater Ivan Vazov wurde vom österreichischen Architektenduo Fellner und Helmer erbaut, viele der Architekten wurden in Wien ausgebildet, nahmen gern die Einflüsse der Secession mit in ihre Heimat und begannen, diese zu verändern. Sie prägten eine bulgarische nationale romantische Secession. Diese Stilrichtung erlaubt alle individuellen Ausformungen: brutal bis romantisch, manchmal fast barock, dann wieder mittelalterlich, volkstümlich, sogar orientalisch angehaucht. Das kann man an vielen Gebäuden im Stadtzentrum noch bis heute gut ablesen. Dazu gehören das Zentrale Mineralbad Sofia (heute Museum zur Stadtgeschichte von Sofia), die Zentrale Markthalle, die Hallen, die Synagoge, das Gebäude der Heiligen Synode, die Geistliche Akademie, viele der orthodoxen Kirchen, die Häuser entlang des Boulevards Maria Luisa, der Moskovska- und Rakovski-Straße sowie sehr gut Erhaltenes im hippen Viertel um die Zar-Ivan-Assen-Straße.

Das Stadtzentrum um den Königspalast herum ist seit über 100 Jahren eigenwillig mit gelben Pflastersteinen ausgestellt, die in einer geheimnisvollen Manufaktur der Donaumonarchie angefertigt wurden. Früher als Symbol des Wohlstands, für die Kommunisten eine bourgeoise Unart und heute ein Symbol der wiederkehrenden Bürgerproteste, sind sie nicht nur schön, sondern bei geringster Feuchtigkeit oder Schneefall extrem rutschig. Die Fortbewegung zu Fuß oder mit dem Auto ist eine absurde Rutschpartie, trotzdem lieben sie die Sofioter innig. Kein Politiker und kein Regime hat jemals gewagt, an die Entfernung der Pflasterung zu denken.

Motiviert. Manche Geschichte wird ausgegraben, manches bleibt auf halber Strecke stecken.
Motiviert. Manche Geschichte wird ausgegraben, manches bleibt auf halber Strecke stecken.(c) flickr/Adam Hlnet (CC BY-ND 2.0)

Abriss aus Prinzip. Das sowjetische Momentum war etwas, das man so wenig wollte wie die Spanische Grippe. Bekommen hat man es trotzdem – stalinistische Regierungsbauten auf den Fundamenten der gerade erst im Secessionstil erbauten Innenstadt. Abriss im großen Stil, Bestrafung der Bourgeoisie. Das Parteigebäude der Kommunistischen Partei (heute Regierungssitz mit Fahne statt des roten Sterns auf der Spitze), das Präsidentenamt und Sofia Hotel Balkan: Die Gebäude stehen noch da, wie in einem Reservat der Fehler, unvermindert unangebracht in ihrer Wuchtigkeit und Schwere, eine tiefe Narbe im Stadtgewebe und in der Seele der Sofioter. Einige Perlen der konstruktivistischen Architektur sind auch entstanden, das muss man der Sowjetära dann doch lassen. Abgehoben im Glauben an den „neuen Menschen“, auf der Suche nach Leichtigkeit, verstecken sie sich etwas ergraut im Dschungel der Stadt. Bauten wie die Architekturfakultät oder die Nationale Versicherungsanstalt NOI werden von der Bevölkerung kaum bemerkt. Wertschätzen wird sie nur der fremde Blick. Dieser kann sich seinerseits den Ausflug zu Mladost, Ljulin und ganz gleich welcher Plattenbausiedlung in Sofia sparen. Schätzungsweise eine halbe Million Sofioter leben in solchen Siedlungen. Sind sie für den Fremden auf den ersten Blick bedrückend, mögen die meisten Bewohner ihre Siedlungen und haben dort soziale Netzwerke, Nahversorgung und Unterhaltungsmöglichkeiten.

„Sofia ist mein Rom“ hat Kaiser Konstantin über seine Lieblingsstadt zu sagen gepflegt. Gewissheit über das gewaltige Ausmaß des römischen Erbes hat man in Sofia erst mit dem Bau des U-Bahn-Netzes erlangt. Egal, wo man in der Altstadt gräbt, keine drei Meter, schon steht man knöcheltief in römischen Ruinen: Stadtmauern, Wachtürme, Häuser, Stadien, Amphitheater und Artefakte. Man verschob den U-Bahn-Bau und baute erst 20 Jahre später weiter, obwohl man nach wie vor keine andere Lösung hatte, als zu bauen und zwangsweise zu vernichten oder doch zu erhalten. Ein ideologischer Streit beherrscht seitdem die Stadt: Ist die obere Stadt wichtiger oder die untere? Worauf soll man mehr Rücksicht nehmen, auf die Funde der Vergangenheit oder das Leben hier und jetzt? Ausprobiert wurde alles: vom nächtlichen Verschwindenlassen, nonchalanten Freilegen übers Restaurieren und Exponieren bis hin zum Integrieren in neue Gebäude. Archäologiebegeisterte steigen in der U-Bahn-Station Serdika aus und finden dort Interessantes. Im Largo erwarten sie ein Spaziergang über dem Decumanus und das anschaulich restaurierte römische Stadtviertel. In den Unterführungen und zwischen den Häusern kann man ungehindert auf Ruinen sitzen, und im Hotel Arena Serdika geht man zwischen den alten römischen Mauern ins Spa.

Religionsgemeinschaft. Die Idee von Toleranz manifestiert sich sehr beeindruckend im Herzen der Stadt. Es gibt wohl kaum eine andere in Europa, in der mit wenigen Metern Abstand Gotteshäuser aller Religionen stehen: die orthodoxe Kathedrale Sveta Nedelya, die Banya-Bashi-Moschee, die Synagoge, die katholische Kirche zum Hl. Joseph und die Kirche der Rumänisch-Orthodoxen. Das ist der älteste und zentralste Teil der Stadt, in einer Achse zum nahen Hauptbahnhof. Dort kamen schon immer Händler, Arbeitssuchende, Glücksritter, Pechvögel und Käufer aus allen Richtungen an, um Handel zu treiben. Zu den kleinen Geschäften, Passagen und Märkten kommt man, wenn man nicht weiß, was man sucht, und doch etwas braucht.

Dramatisch.   Eines der vielen Theater der Stadt: das Ivan Vazov.
Dramatisch. Eines der vielen Theater der Stadt: das Ivan Vazov.(c) flickr/Adam Hlnet (CC BY-ND 2.0)

Das Jüdische Viertel, gegenüber der Synagoge, ist ein Geheimtipp und mausert sich zu einem „Kunstbezirk“. Daneben, gegenüber der Moschee, liegt Sofias Seidenstraße: arabische Lebensmittel, Stoffe, Teppiche, Gewürze, Wasserpfeifen, Falafel, Nähzubehör, Halal-Fleisch, Barbierstuben und orientalische Beisln, all das kann man in der Zar-Simeon-Straße sehen. Für die eingesessenen Sofioter ein unersetzlicher Teil der Stadt. Für die Menschen, die hier vor 20 Jahren angekommen sind, neue Heimat. Für die heutigen Flüchtlinge ein sicherer Hafen zwischen den Welten. Bei aller Toleranz bleibt den Sofiotern das Denkmal der Sowjetarmee ein Dorn im Auge. Viel zu verhasst als Symbol der sowjetischen Unterdrückung ist es extrem beliebt als Protestfläche für brisante politische Kommentare. Überhaupt hat Sofia ein reiches Kulturleben, dem sich alle Generationen anschließen. Galerien, Konzerte, Festivals und über 40 Theater, auf der ungeschlagenen Kulturmeile Sofias, der Rakovski-Straße, findet man gleich 18 davon.

Sofia hat Superlative: die größte orthodoxe Kathedrale, unglaubliche Berge vor der Haustür, anarchische Bewohner, großspurige Nobelautos. Aber es wäre Unsinn, zu versuchen, Sofia mit Zahlen und Fakten zu messen. Sofia ist nicht das, was man sieht, sondern das, was man erahnt. Sofia misst man an der Sturheit der Einwohner, ihren tollkühnen Visionen nachzurennen. Sofia ist wie ein Versprechen, sie ist die Summe ihrer noch nicht genützten Möglichkeiten. Das Fast-Gebaute, das Einmal-Dagewesene, das Verbotene, das Gewollte, das Erzwungene, Träume, Sehnsüchte, die amerikanischen Bomben und die russischen Panzer, die ersten illegal eingeführten Coca-Cola-Flaschen, der Hunger, der mit dem kam, was man für Demokratie hielt, durchwachte Nächte und liebevolle Gedanken – das alles ist stets gleichzeitig da. Es hat diese Stadt nie verlassen. Es schwingt mit, in jedem Schritt und Blick, in jedem der verwackelten Pflastersteine, und es bringt die Verheißung, dass bald etwas Neues passieren, aber trotzdem alles bis in alle Zeit gleich bleiben wird.

Übernachten: Hotel Coop, zentral, vier Sterne, Iskar 30. Arena di Serdica, fünf Sterne, Spa, Budapeshta-Straße 2–4. Maria Luisa, vier Sterne, am herrschaftlichsten Boulevard Sofias, Boul. Maria Luisa 29.

Essen & Trinken:Hambara: Underground-Kultbar mit „Verstecktester Ort in Sofia“- Prädikat. Ohne Strom, erleuch- tet von Hunderten Kerzen. 6-ti sep­­temvri 22. Sofia Center, der dunklen Allee folgen bis zur alten Holztür. Ab 21 Uhr. Kan­­dahar: Hervorragende bulgarische Küche. Treffpunkt für Sofioter Originale. Boulevard Evlogi i Hristo Georgiev 4; „Bei den Tschechen“: seit 1936, gegründet von tschechischen Immigranten, Gastgarten unter Reben. Seit 90 Jahren Zuflucht der Sofioter Aristokratie. Krakra 15. San Dojdoh: uriges Beisl, anarchischer Geist und Live-Jazz. Tsar Samuil 73. Sense Rooftop Bar: schick am Dach des Sense Hotels, Boul. Tsar Osvoboditel 16. Tea House: Cultural Beat in der Fabrik, vegane/vegetarische Küche, chillige Atmosphäre. Georgi Benkovski 11.


Shopping & Streetlife:
Zar-Ivan-Shishman-Straße: eine der angesagtesten für Millennials, Vegane, Schicke.
Vitosha-Straße: mit Blick auf den Berg, Geschäfte, Lokale, beliebte Flaniermeile.
Stadtpark Gradskata Gradina: Treffpunkt zum Schachspielen. Die Leute kennen sich oft vorher nicht. Ganzjährig.
Graf-Igantiev-Straße: Einkaufsachse der Einheimischen. Abwechslungsreiche Abfolge von Plätzen, Passagen, Ge- schäften, Märkten, Parks. Buchmarkt: Besonderheit am Slavejkov-Platz, vor der Stadtbibliothek.
Wasserturm in Lozenets: Dornröschenturm im Lieblingswohnviertel der Sofioter. +359gallery und gute Lokale in der Nähe. Vitosha: Sofias‘ Hausberge, eine Stunde vom Zentrum bis zur Spitze.

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