Bayerisches Staatsballett: Bloß nichts erzählen!

(c) Bayerisches Staatsballett/Wilfried Hösl
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Surren, Summen, Knacksen: Richard Siegal und das Bayerische Staatsballett gastieren in Wien.

Zuerst die Musik. Carsten Nicolai alias Alva Noto, Virtuose der elektronischen Klänge, hat sie komponiert: aus Stampfen und Piepsen, Modemgeräuschen, Surren, Schrillen, Summen, Knacksen, gesprochenen Wörtern und 120 Beats pro Minute, alles im 4/4-Takt. Dann der Tanz. Zu diesem fühlte sich Choreograf Richard Siegal gleich zu Beginn animiert. Er tat es dann aber nur bei den Proben selbst, als er mit dem Bayerischen Staatsballett „Unitxt“ (könnte „Unit extended“ heißen, meint der Komponist zum gleichnamigen Album) einstudiert hat. Jetzt kommt die klassische Compagnie mit „Unitxt“ und einem der bekanntesten Werke des 2009 verstorbenen Meisterchoreografen Merce Cunningham, „Biped“, nach Wien.

„Noise“. „Exits and Entrances“, „Abtritte und Auftritte“, nennt Ballettdirektor Ivan Liška den Abend, „weil das die Struktur beider Choreografien“ sei. „Die Absenz der Narration“ eint für Liška beide Werke, die Auftragsproduktion des Forsythe-Tänzers Siegal und das 1999 uraufgeführte Werk des damals 80-jährigen Cunningham. „Nichts erzählen“, das war für Cunningham ein Grundprinzip. Damit keinerlei Beziehungen zwischen den Modulen einer Choreografie entstehen, verbot er Komponisten (am liebsten seinem Freund John Cage), Bühnenbildnern (gern seinem Freund Robert Rauschenberg) und anderen kreativen Mitarbeitern, miteinander zu kommunizieren. „Sie arbeiteten zusammen, aber es war eine blinde Zusammenarbeit“, erinnert sich Robert Swinston, langjähriger Tänzer in der Merce Cunningham Company und später Cunninghams Assistent.
Er hat „Biped“ mit der bayerischen Compagnie einstudiert.
Eine neue Erfahrung für die klassisch ausgebildeten Tänzerinnen. „Es war ausgesprochen fordernd, die Bewegungsverbindungen und das Raumbewusstsein zu entwickeln. Und das gilt für beide Werke des Abends. Aber es war nicht unmöglich.“ Liška baut auf seine Tänzer: „Sie sind mit vielen Tanzstilen vertraut, Neuem immer aufgeschlossen. Das Bayerische Staatsballett hat eines der umfangreichsten Repertoires.“

Wie im Sog der wummernden Geräusche erscheinen die Tänzer und Tänzerinnen in exquisiten Kostümen, schwarzen Korsagen, dunklen Hosen, semitransparenten Shirts unter dem Wort „Noise“, das im Hintergrund läuft, und kommen eiligen Schrittes nach vorn. Kaum legt „Unitxt“ los, bebt das Theater, ein Energiestrom bewegt die Menge, Schulter an Schulter gleiten die Einzelnen aneinander vorbei, Gedränge auf der Einkaufsstraße, kontrolliert, keine Kollisionen; Hüften schwingen und rollen, Beine klappen scherenartig auf und zusammen, Füße stampfen, Körper fliegen, kein Stillstand im rasanten Kommen und Gehen, Springen und Rennen der zwölf TänzerInnen – Individuen in der Masse, der Beat gibt den Rhythmus vor.

Der Industriedesigner Konstantin Grcic hat die Kostüme für „Unitxt“ entworfen. „Mehr Objekte als Kostüme“, sagt Siegal. Die Hosen haben Haltegriffe, die Korsagen der Damen Gummibänder, an denen die Tänzerinnen vor- und zurückschnalzen und die blitzschnelle Richtungsänderungen möglich machen. „Wie beeinflussen Materialien den Körper und die Bewegungsmöglichkeiten?“, wollten Grcic und Siegal wissen. Das Publikum wird es sehen, auch wenn es den vom aufwühlenden Klangteppich angetriebenen Bewegungen kaum folgen kann. Nicht zu übersehen, dass Siegal sieben Jahre in
William Forsythes Frankfurter Compagnie getanzt hat.

Grenzen? Ob der Körper keine Grenzen habe und der Tanz allmählich an diese stoße? Liška verneint energisch: „Grenzen? Vielleicht im Sinn der Athletik, aber nie im Sinn der choreografischen Kreativität. Keineswegs!“ Liška, ebenfalls mehrfach preisgekrönt und ordenbehängt, war selbst nahezu dreißig Jahre lang Tänzer und 20 Jahre lang viel geliebter Solist in John Neumeiers Hamburg Ballett. Die Galionsfigur des „modern Dance“, Merce Cunningham, hat er bereits im jugendlichen Alter in Prag gesehen. „Lebhaft“ erinnert er sich „an die Tänzeraktionen, Staffeleien, Wassereimer auf der Freiluftbühne“. Davor war Cunningham mit seiner Company in Wien, suchte einen geeigneten Auftrittsort für sein Werk, fand das Zwanzgerhaus – Museum des 20. Jahrhunderts und schuf ein Ereignis, das einen besonderen Platz in der Tanzgeschichte einnimmt: „Museum Event N° 1“ von Merce Cunningham und John Cage. 2000 war die MCD Company noch einmal in Wien. Der Meister persönlich stellte „Biped“, den Tanz der Zweibeiner, vor. Kreiert mit dem „Motion Capture“-Verfahren am Computer, zeugt „Biped“ von Cunninghams Neugierde und unermüdlicher Suche nach „noch nie Gesehenem“. Tastsächlich ist „Biped“ immer wieder neu, Routine schleicht sich auch nach intensiven Proben nicht ein.

Lakonisch antwortet Liška auf die Frage, wie es gelingt, Cunninghams Forderung nach der Aleatorik, dem Zufälligen, zu erfüllen: „Das Werk steht für sich. Es liegt an uns, es adäquat zu tanzen.“ Anders als der elektronische Klangraum in Siegals 25-Minuten-Stück erklingt die Livemusik in „Biped“ nahezu altmodisch digital. Komponist Gavin Bryars kommt auch nach Wien, um mit seinem Ensemble die Tänzerinnen zu begleiten. Auch er wusste lediglich, „dass das Stück 45 Minuten dauern wird“, Proben durfte er keine sehen. Sie wurden auch in München ohne Musik abgehalten. Noch heute freut sich Bryars: „Alles passt zusammen, die Musik, die Bewegungen und auch das Licht.“

Dafür ist der mit Cunningham vertraute Designer Aaron Copp verantwortlich. Er entwirft einen magischen Raum, hell und dunkel, teilt die Bühne in fast zufällige Quadrate und Streifen, lässt die Tänzer hinter Lichtvorhängen verschwinden, in ihren bunt schillernden Kostümen aus dem Nichts auftauchen. Der Computer zaubert tanzende Figuren, die als Schemen über die Bühne ziehen, die Tänzer verdoppeln, aber von ihnen nicht gesehen werden. Magie pur.

Solotänzerin Luisa Diáz González nennt „Biped“ einen „Intelligenztanz“; weil so viele Bewegungen gleichzeitig ausgeführt werden müssen, „muss der Körper eng mit dem Intellekt verbunden sein, und wir müssen ganz darauf konzentriert sein, was im Moment passiert“. Ein technisch überaus schwieriges Stück, und das Ende kommt überraschend. Zufällig eben.

Die Autorin reiste auf Einladung des Tanzquartier Wien nach München.

Tipp

Bayerisches Staatsballett. „Exits und Entrances“, Merce Cunningham, Richard Siegal. „Eine Art Zaubertrank, ein Spitzentanzkraftwerk“, urteilte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Die Aufführung ist am 1./2.   Oktober im Tanzquartier Wien zu Gast. www.tqw.at/

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