"Gut kuscheln"

Marie Rötzer, neue Intendantin in St. Pölten, erzählt, was das Theater alles zu bieten hat: Trost und Heil wie in der Kirche, ein Gefühl für Gemeinschaft und sogar ein Ersatzleben.

Das Leben ist oft viel verrückter als das Theater", ist Marie Rötzer überzeugt. 1967 in Mistelbach geboren, hat sie in Deutschland Karriere gemacht, wo sie zuletzt persönliche Referentin des Intendanten des Hamburger Thalia-Theaters, Joachim Lux, war. Als Schulkind ist Rötzer, Tochter von Weinbauern, oft nach Wien in die Burg gefahren. Nun übernimmt die erfahrene Dramaturgin von Bettina Hering, die bei den Salzburger Festspielen Schauspieldirektorin wird, das Niederösterreichische Landestheater in St. Pölten. Rötzer verspricht "Auf- und Umbrüche": "Die Welt kommt durch die Medien immer näher ins Wohnzimmer. Das Theater soll ein Spiel- und Denkraum ohne Grenzen sein".

Die japanische Schauspielerin Sachiko Hara hat mir einmal gesagt, sie glaubt, der Grund, warum die Europäer, vor allem in deutschsprachigen Ländern, so gern und viel ins Theater gehen, ist, weil der Winter so lang ist. Was meinen Sie?

Theater ist ein Ort, wo man gut kuscheln kann.


Wirklich? Oft wird man aufgerüttelt oder enttäuscht.

Kommt drauf an. Auf jeden Fall geht man auch ins Theater, um unter Menschen und in einer Gemeinschaft zu sein. Vielleicht ist das Theater ein Ersatz für den sonntäglichen Kirchgang.


Im Burgtheater ist aber mehr los als in einer Messe.

Da bin ich mir nicht so sicher. Der Dorfpfarrer meiner Kindheit konnte eine Fronleichnamsprozession beeindruckend "inszenieren". Es hat mich sehr geprägt, in der Landschaft des Weinviertels aufzuwachsen und als Kind in diesen Weingärten herumzulaufen. Meine Vater hat Weingärten, der Wein ist auch sehr gut. Inzwischen ist mein Vater in Pension, die Weingärten sind verpachtet. Meine Eltern waren aber auch immer sehr kulturinteressiert. Als Schulkinder sind wir mit dem Bus abends ins Burgtheater gefahren. Ich hatte dort ein Abo. Aber der Messebesuch am Sonntag hat auch zu meinem Leben gehört. Die Theatralität der Liturgie hat mich fasziniert.


Ist Theater ein Heilsbringer?

Auf jeden Fall, Theater ist ein Trostspender und Heilsbringer. Die Geschichten, die auf dem Theater erzählt werden, sind wie ein Ersatzleben. Konflikte und Themen, die auf der Bühne angesprochen werden, muss man erst einmal nicht selbst leben und erleben. Sie werden einem vorgeführt. Man kann sich inspirieren lassen, Theater bringt einen zum Nachdenken und zum Lachen.


Worüber lachen Sie?

Über die Absurditäten des Lebens. Das Leben ist oft viel verrückter als das Theater. Ich lache auch über mich selbst. Ich finde es wichtig, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen, Selbstironie zu haben.


Sie sind nie selbst auf einer Bühne aufgetreten?

Nein. Ich war immer im Hintergrund. Dramaturgin.


Der Dramaturg gilt als Erbsenzähler, der die künstlerische Kreativität beschneidet.

Im Gegenteil. Der Dramaturg sollte die Künstler ermutigen und motivieren. Dramaturgen gibt es nur im deutschsprachigen Raum, weder in England noch in Frankreich. Der Dramaturg ist dazu da, die Regisseure intellektuell zu begleiten und das Stück zu interpretieren, was nicht heißt, dass man es buchstabieren muss.


Vom-Blatt-Spielen hat eine Marktlücke, aber wenn das oft vorkommt, würden die Aufführungen altmodisch und langweilig.

Vor allem wären sie dann viel zu lang.


Warum werden Theaterabende immer kürzer? Filmlänge, ist das ein Trend?

Manchmal ist ein Stück einfach in 90 Minuten erzählt. Aber ich sehe das nicht als Trend. Am Thalia-Theater gibt es fast keine Aufführungen unter drei Stunden.


Wie ist Hamburg? Wie war es am Thalia Theater?

In Hamburg ist sehr viel Geld, und die Leute sind sehr aufs Geschäft konzentriert. Theater ist eine Verpflichtung für das dortige Bildungsbürgertum, dafür geben die Hamburger auch etwas aus. Sponsoring ist wichtig. Dem Thalia-Theater wird allerdings einiges abverlangt. Es muss 25 Prozent seines Budgets mit Eigeneinnahmen erzielen.


Hatten Sie in Hamburg Heimweh?

Ich habe mich in Hamburg wohlgefühlt und wurde sehr gut behandelt. Als ich am Staatstheater in Mainz gearbeitet habe, hatte ich schlimmes Heimweh. Mir fehlten der österreichische Humor und das Zwischen-den-Zeilen-Lesen. Die Hamburger haben einen sehr trockenen britischen Humor. Außerdem ist die Stadt wunderschön. Es gibt viel Wasser, man ist auch schnell an der Ost- und der Nordsee. Man geht in die Sauna und hüpft nachher ins Meer. Traumhaft.


Jetzt springen Sie in St. Pölten ins kalte Wasser. Es ist Ihre erste Intendantenstelle. Was werden Sie machen?

Das Thema ist Auf- und Umbrüche. Es gibt enorme Umwälzungen und Veränderungen in unserem noch jungen Jahrhundert. Das Theater muss auf gesellschaftliche Entwicklungen eingehen. Die Welt kommt durch die Medien immer näher in unsere Wohnzimmer mit Bankencrashs, Flüchtlingsschicksalen und Naturkatastrophen. Das Theater soll aber über die vermittelte Wirklichkeit hinausgehen und ein Spiel- und Denkraum ohne Grenzen sein.


Was halten Sie von Romandramatisierungen?

Wenn sie einen Mehrwert für die Bühne bringen, sehr viel. Das Theater bedient sich wie jede Kunstform aus allen Quellen. Niemand fragt, ob ein Roman verfilmt werden soll oder darf. Das Theater ist immer auf der Suche nach welthaltigen Themen, die findet es eben nicht nur in der Dramatik, sondern auch in der epischen Form.


Was hat Ihnen zuletzt gefallen und was hat Ihnen missfallen im Theater? Was können Sie gar nicht leiden?

Was ich am Theater generell nicht ausstehen kann, ist Langeweile. Da werde ich ganz ärgerlich! Ich bin zum Beispiel ein großer Fan des belgischen Regisseurs Luk Perceval. Er hat "Früchte des Zorns" von John Steinbeck am Thalia-Theater inszeniert. Das Schicksal dieser Menschen, die aus ihrer Heimat wegmüssen, weil sie keine Arbeit finden, hat mich sehr berührt.


Wohin würden Sie auswandern?

Ich würde auf keinen Fall allein auswandern. Ich brauche Menschen um mich, die mir Heimat geben. Dann ist der Ort gar nicht so wichtig. Ich bin einmal drei Monate in der Ukraine gewesen, um dort an der Universität zu arbeiten. Da habe ich schnell bemerkt, dass es nicht um den Ort geht, sondern um die Menschen geht.


Waren Sie einsam?

Ja. Ich habe dann begonnen, Russisch zu lernen. Ich hatte eine tolle Lehrerin, eine alte jüdische Frau, die mit mir Deutsch gesprochen hat. In ihrer Bibliothek war die ganze deutsche Klassik versammelt. Sie lebte auf einer Art Sprachinsel und unterrichtete Kinder, die mit ihren Eltern auswandern sollten, in Deutsch und Englisch. Sie hat mir von ihren Erfahrungen im Ghetto erzählt. Sie sagte, Heimat ist da, wo die Familie ist. Das Traurige war, dass fast ihre gesamte Familie umgekommen ist.


Mit wem würden Sie auswandern?

Mit meinen engsten Freunden und meiner Familie.


In St. Pölten sind Sie jetzt nahe bei Ihrer Familie, aber weg von Ihren Freunden in Hamburg.

Zum Glück habe ich auch hier einen Freundeskreis. Außerdem ist man heute mobil und flexibel. Ich werde ja auch reisen, um unter anderem in Hamburg oder Berlin ins Theater zu gehen.


Ist das Theater auch so eine Art Familie? Es gibt doch auch viele Intrigen und Zank und Konkurrenzkampf dort.

Es gibt natürlich auch ab und zu dieselben Probleme und Spannungen wie in einer richtigen Familie. Aber letztlich ist das Theater toll, weil man alles immer über das Spiel lösen kann. Wenn die Schauspieler gemeinsam auf der Bühne eine Geschichte erzählen, dann sind die Konflikte hinter den Kulissen vergessen.


Sie haben Theaterwissenschaft studiert. Früher galt das als Orchideendisziplin. Eltern fragten: "Was macht man damit?"

Ich bin eine der wenigen aus meinem Studienjahrgang, die beim Theater geblieben sind. Man braucht Durchhaltevermögen und Zähigkeit. Ich bin ins Ausland gegangen, ich habe Großstädte erlebt, ich war aber auch in der Provinz. Man muss vielseitig sein.


Sind Sie ehrgeizig?

Das kommt ganz darauf an, wie man Ehrgeiz definiert. Wenn mir etwas an einer Sache liegt, setze ich mich sehr ein mit allem Zeitaufwand und aller Überzeugungskraft, die nötig sind.


Um das Niederösterreichische Landestheater in St. Pölten haben sich immerhin stattliche 68 Personen beworben. Mit welchem Konzept haben Sie überzeugt?

Wir müssen uns öffnen. Am Landestheater müssen Regisseure und Schauspieler aus Österreich genauso wie Künstler mit ausländischem internationalem Hintergrund arbeiten. Das Ensemble wird gemischte Herkünfte haben. Mir geht es nicht darum, Flüchtlinge auf die Bühne zu bringen. Aber ein Theater, ein Ensemble, muss die Gesellschaft widerspiegeln.


Hat Ensemble-Theater noch eine Chance in diesen abwechslungssüchtigen Zeiten?

Auf jeden Fall. Es ist wichtig, dass man kontinuierlich zusammenarbeitet und künstlerische Beziehungen herstellen kann. Das ist für die jüngeren wie für die älteren Schauspieler wichtig und auch für das Publikum, das Identifikationsfiguren braucht.


Wo machen Sie Urlaub?
Jetzt muss ich noch der Ostsee Adieu sagen.

Tipp
"Stadtgeschichten". 29. 4. Uraufführung in St. Pölten. Ihren ersten Spielplan für die Saison 2016/17 gibt Marie Rötzer am 23. Mai bekannt.

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