„Ich kann der Türöffner sein“

Renate Aichinger betreut die neue Schiene Offene Burg. Das erste Projekt mit Laien, die sie „Alltagsprofis“ nennt, wird die „Orestie“ sein.

„Offene Burg – Menschen, Tiere, Sensationen“ heißt es dieses Wochenende im Burgtheater. Das klingt ein bisschen nach der Zirkus-Show „Artisten, Tiere, Attraktionen“ – und so ist es auch gedacht. Offene Burg heißt eine neue Schiene, die Jugend- und Bürgertheater vereint. Sie wird betreut von zwei Spezialisten für dieses Genre, Renate Aichinger und Airan Berg. Die 39-jährige Salzburgerin Aichinger, die auch Autorin ist, hat in St. Pölten spektakuläre Aufführungen gezeigt wie „Glanzstoff“ über die alte Glanzstofffabrik, das Stück für Laien schrieb Felix Mitterer. Airan Berg war unter anderem verantwortlich für das Schauspielprogramm der Kulturhauptstadt Linz 2009 und initiierte Festivals mit Künstler- und Bürgerpartizipation in Süditalien. Als erste Theaterproduktion für alle wurde die „Orestie“ gewählt, weil sie, wie Aichinger im Interview betont, Themen wie Krieg und Familie hat, die alle beschäftigen.

Sie sind Spezialistin für Partizipationstheater, haben schon viele erfolgreiche Produktionen mit Laien herausgebracht. Ab dieser Saison betreuen Sie die Offene Burg, verschiedene Formen von Jugend- und Bürgertheater. Was planen Sie?

Es soll unterschiedliche Formate geben: Theaterclubs, Workshops, Lesungen. Wir wollen aber auch raus in die Stadt, zum Beispiel mit den Stadtrecherchen, die Airan Berg leiten wird, der schon unter Claus Peymann am Burgtheater war. Wir gehen gemeinsam über die Donau, in die äußeren Bezirke, dort leben 300.000 Menschen. Das ist ein spannendes Umfeld. Wir besuchen Institutionen, Migrations- oder Seniorenvereine und haben bereits Menschen gewonnen, die Lust haben, sich mit verschiedenen Themen zu beschäftigen, darunter auch mit dem Krieg. Beziehungsweise dem Danach. Unser Anknüpfungspunkt an die Burg ist das Projekt „Orestie“, das im März 2017 Premiere hat.

Krieg bedeutet für die hiesigen Senioren und die Migranten etwas völlig Unterschiedliches.

Natürlich. Das ist das Spannende. Krieg ist ein zentrales Thema für alle. Wir versuchen, offen zu sein, künstlerisch eine Form zu finden und zu schauen, was die Menschen in Floridsdorf oder in der Donaustadt interessiert. Vielleicht gibt es Leute, die tanzen, malen, singen, schreiben oder einen Film machen können. Wir werden ein Jahr mit den Menschen arbeiten, und am Ende der Saison sollen sie die Burg einen Tag lang bespielen. Wir wollen Transdanubien ins Burgtheater holen. Ich nenne diese Spieler übrigens nicht Laien, sondern Alltagsprofis.

Wird das so ähnlich sein wie bei den Performances von Christoph Schlingensief oder Hermann Nitsch?

Ich glaube, das kann man nicht vergleichen. Am besten, man macht sich selbst ein Bild: Der Auftakt ist der erste und zweite Oktober, da gibt es ein Wochenende der offenen Tür – an dem wir zeigen wollen, was die Burg kann und was wir können.

Burgschauspieler wollen nach Transdanubien?

Es gibt Burgschauspieler, die jetzt schon mitmachen wollen – ja. Es wird keiner zwangsverpflichtet.

Wie geht es mit der Jungen Burg weiter?

Ich würde mir wünschen, dass jeder Jugendliche in die Burg kommt. Je nach Interesse versuchen wir Formate anzubieten, die ein Wochenende dauern oder nur einen Tag. Ein anderer will vielleicht das ganze Jahr einmal in der Woche kommen, für den gibt es dann auch ein passendes Angebot. Wichtig ist die Verbindung Burg und Stadt, das zieht sich durch das gesamte Programm. Seit 2009 habe ich die Schiene Wiener Brut gestaltet, die sich mit der Stadt beschäftigt, mit Themen wie Glück, Traum oder Arbeitslosigkeit.

Hat es das Theater versäumt, auf sein Publikum zuzugehen?

Das glaube ich nicht. Aber man kann Anreize schaffen, wie die Menschen mehr über das Theater erfahren können, als wenn sie nur eine Vorstellung besuchen. Es gibt Leute, die nicht einmal wissen, wie man in eine Vorstellung kommt. Eine gewisse Schicht lernt das früh. Andere erfahren davon nichts. Zwischen diesen Menschen und dem Theater möchte ich das Bindeglied sein.

Wie haben Sie sich dem Theater angenähert?

Ich bin aus Salzburg, habe in Wien Theaterwissenschaft studiert und bin auch einmal vor dieser großen Burg gestanden. Die Türen waren größer als ich, und ich dachte, wie komme ich da hinein? Für mich ist das ein schöner Bogen, weil jetzt kann ich der Türöffner sein. Für jedermann und -frau kann und sollte Theater sehr wichtig sein, denn in den Stoffen, die hier verhandelt werden, wird das Leben verhandelt.

Die heutigen Jugendlichen sind vor allem durch Kino, Fernsehen und Computer geprägt, weniger durch Bücher und Theater.

Genau deswegen müssen wir noch mehr daran arbeiten, auf sie zuzugehen. Am Theater geht es ja nicht nur um Bildung. Was mir wichtig ist: Die Jugendlichen proben und spielen, aber sie sprechen auch miteinander. Dadurch schulen sie ihren Blick für die Umwelt.

So viele junge Leute wollen heute zur Kunst und ans Theater. Aber werden da nicht unrealistische Hoffnungen geweckt? Nicht jeder kann Michael Maertens werden.

Natürlich nicht. Auch will nicht jeder Jugendliche, der bei uns mitmacht, später ans Theater. Für viele ist das einfach ein Sich-Ausprobieren, etwas ganz anderes erleben. Nicht jeder soll Schauspieler werden, aber jeder sollte mal im Theater gewesen sein.

Hat Theater noch eine politische Wirkung?

Wenn 200 oder 500 Menschen zusammen in einem Raum sind und dasselbe erleben, passiert etwas mit ihnen. Ich glaube auch, dass das Theater wieder politischer wird, denn es ist ja ein Spiegel der Gesellschaft. An deutschsprachigen Bühnen gibt es immer mehr partizipative Formen, Bürgerbühnen, Flüchtlingscafés, Sprachunterricht im Theater, auch Stationentheater. Man sitzt nicht mehr nur drin und bewundert den großen Star und geht dann raus, man sieht Theater an ungewöhnlichen Orten, es gibt viel Rundherum, Gesprächsreihen. Das finde ich sehr wichtig, dass die Leute miteinander reden. Das möchte ich auch bei unserem Stadtrecherche-Projekt erreichen. Wir leben in einer Zeit, in der wir uns immer mehr zurückziehen und Angst haben – vor denen da drüben, weil wir nichts von ihnen wissen.

Kann jeder Künstler sein? Einerseits steigt das professionelle Niveau am Theater, andererseits drängen viele dorthin. Wie geht das zusammen?

Ich denke schon, dass jeder in seiner Form ein Künstler sein kann, es ist nur die Frage mit welcher Reichweite? Ich möchte mit unseren Alltagsprofis keinen Vergleich mit professionellen Schauspielern ziehen. Das ist ein großer Unterschied. Wir hatten in St. Pölten beim Projekt über die ehemalige Glanzstoff-Fabrik einen Arzt und eine Fabriksarbeiterin in einer Gruppe. Zuerst haben manche gesagt, wenn der mitspielt, spiele ich nicht mit. Am Schluss haben sie sich gemocht und sie treffen sich noch immer. Mein Ziel ist es, in der Stadt mit der Offenen Burg ein Gespräch anzukurbeln.

Es wird jetzt viel über Sicherheit in der Stadt diskutiert. Fühlen Sie sich bedroht, wenn Sie nachts in Wien unterwegs sind?

Nein. Ich habe keine Angst. Ich fahre mit der U6, gehe auf den Praterstern und ich finde, dass Wien eine sichere Stadt ist. Passieren kann überall etwas, Angstmacherei ist jetzt politisch opportun. Ich habe keine Lust drauf, ich will mich nicht fürchten.

Kennen Sie Länder, aus denen die Flüchtlinge kommen?

Ich hatte letzten Sommer viel mit Geflüchteten zu tun. Ich war in Nickelsdorf und Ungarn und habe versucht, den Menschen zu helfen. Man kippt da so schnell rein in so eine Katastrophe. Ich dachte, ich höre auf mit dem Theater und stelle mein Leben um. Schnell ist mir klar geworden, das geht nicht, ich muss Geld verdienen, sonst kann ich bald niemanden mehr helfen. Also habe ich beschlossen, mich in meinem Metier mit dem Thema zu beschäftigen.

Was halten Sie von sozialen Medien?

Ich finde sie gut, man kann sich viele verschiedene Meinungen holen. Allerdings ist das alles sehr schnelllebig.

Wie geht die Internet-Umtriebigkeit mit Ihrer Tätigkeit als Autorin zusammen? Da ist man einsam und muss sich konzentrieren, sonst wird nichts draus.

Tatsächlich bin ich vor einiger Zeit aufs Land gezogen, nach Neuwaldegg. Wenn ich schreibe, denke ich, ich sollte im Theater sein. Wenn ich im Theater bin, denke ich, ich sollte schreiben. Das eine ergänzt das andere, man kann nicht nur einsam sein. Außerdem schreibe ich viel im Kaffeehaus, ich brauche die Menschen, meine Texte handeln ja auch von Menschen und Computern, nicht von Bäumen.

Leben Sie dort ein Landleben? Was machen Sie in Ihrer Freizeit

Ich bin gern im Garten, ich versuche alles Mögliche zu pflanzen, Gurken, Tomaten, Zucchini, Kräuter, Blumen. Wir haben Vögel, eine Schlange, einen Fuchs, einen Dachs. Auch das Unkraut wuchert, aber ich mag das Verwilderte. Ich koche gern, lade Leute ein, fotografiere. Ich lese gern, Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard – keine Fantasy, keine Krimis. Dafür habe ich keine Zeit. 

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