Der Körper weiß mehr als der Geist

Volkstanz, Ballett: Eszter Salamon hat beides gelernt, sich aber dann emanzipiert.
Volkstanz, Ballett: Eszter Salamon hat beides gelernt, sich aber dann emanzipiert.Alain Roux
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Von Ungarn aus hat sich Eszter Salamon nach Paris und Berlin aufgemacht. In ihrer Choreografie "Valda & Gus" verfolgt sie ein altes Paar.

Aus dem Dunkel leuchtet ein Kopf auf, verglimmt wieder. Vollkommene Stille hält das Publikum gefangen. Ein Lichtfenster öffnet sich im Hintergrund, glitzernde Tropfen fallen, dann hüllt das Dunkel den Saal wieder ein. Erst allmählich erhellt sich die Bühne in sanfter Dämmerung, lässt eine alte Frau sichtbar werden, die zögernden Schrittes ihren Platz findet und tastend nach ihrer Vergangenheit sucht. Das Gedächtnis des Körpers hilft dem Geist. Die 82-jährige Valda tanzt im Sitzen und zeigt, dass Bewegung auch Erinnerungen zum Fließen bringt. "Valda & Gus" heißt das "Monument 0.1", das die Tänzerin und Choreografin Eszter Salamon gemeinsam mit ihrem Kollegen Christophe Wavelet konzipiert hat. In den als Serie geplanten "Monumenten" beschäftigt sich Salamon mit dem Verhältnis von Tanz und Geschichte.

Für sie, die im kommunistischen Ungarn geboren wurde und sich nach der Wende in Berlin und Paris niedergelassen hat, bewegt sich Tanz nicht außerhalb der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. Im "Monument 0", "Haunted by wars (1913 2013)", hat Salamon die Kriegsgeschichte der vergangenen 100 Jahre erforscht und Tänze der betroffenen Kulturen einstudiert. Eine düstere, aufwühlende Performance, gezeigt 2015 im Tanzquartier, der trotz allen Schreckens ein gewisser Unterhaltungswert nicht abzusprechen ist.

Ohne Schuldgefühle unterhalten darf man sich bei "Monument 0.1", das sich mit persönlichen Erinnerungen an ein Leben für den Tanz beschäftigt. Salamon: "Die Leute wissen viel zu wenig über das Leben einer Tänzerin. Wie eingezwängt diese Künstlerinnen in die Normen sind, wann sie von der Bühne abzutreten haben, wie lang eine Tänzerin aktiv sein darf. Das ist alles festgeschrieben. Emanzipation gibt es da nicht." Nicht nur deshalb hat Salamon "Valda & Gus" choreografiert. Als Choreografin ist sie auch eine Forscherin. "Auch wenn die Choreografie auf anderen Gesetzen beruht als die politische Arena, beeinflusst sie politisches und gesellschaftliches Leben. Wie das geschieht, interessiert mich."

Erinnerungssplitter

Valda und Gus sind zwei fiktive Personen und zugleich zwei reale: Valda Setterfield und Gus Solomons jr., zwei geehrte und preisgekrönte Stars, Gallionsfiguren des Bühnentanzes und der Performance des 20. Jahrhunderts. Valda Setterfield, geboren 1934 in England, hat mit Woody Allen ebenso gearbeitet wie mit Mikhail Baryshnikov, war Tänzerin und Schauspielerin und hat zwei Bessies, den New Yorker Tanz- und Performancepreis, erhalten das zweite Mal 2006 für "die außergewöhnliche Art ihrer Karriere". Noch 1994 hat sie in einer Choreografie von Gus Solomons jr. mit seiner Company Paradigm getanzt. Der Tänzer, Choreograf und Schauspieler Solomons jr., sechs Jahre jünger als seine Kollegin, ist eine Schlüsselfigur im amerikanischen postmodernen Tanz. Er ist mit den Compagnien von Martha Graham und Merce Cunningham, wo er als erster schwarzer Tänzer engagiert worden war, aufgetreten und hat 1972 seine eigene Company gegründet. Eszter Salamon selbst, die mit dem Volkstanz aufgewachsen ist und danach auch eine Ballettausbildung absolviert hat, hat sich bald von Zwängen und Normen gelöst.

"Ich habe schnell gewusst, dass weder der Volkstanz noch das Ballett mein Leben sein wird. Doch Ungarn war ja, als ich jung war, gar nicht an den zeitgenössischen Tanz angebunden. Ich musste in den Westen gehen." Den ungarischen Pass hat sie behalten und zeigt ihre Choreografien im Budapester Off-Theater Traf . In ihrer Heimat leben will sie nicht: "Nicht jetzt!"
In Frankreich hat Salamon mit renommierten Choreografinnen wie Mathilde Monnier, der derzeitigen Direktorin des nationalen Tanzzentrums (CND) in Paris, gearbeitet. Nahezu pünktlich mit dem neuen Jahrtausend löste sie sich als Tänzerin auch von den Choreografien anderer: "Ich wollte auf der Bühne zeigen, was mich selbst beschäftigt. Ich komme aus einem Land, das am Rand von Westeuropa liegt, meine Prioritäten liegen in meinen Wurzeln, ich muss sie finden. Ich bin mit der Vergangenheit nicht wirklich verlinkt und habe einen anderen Zugang zur Geschichte, als eine problematische Art von Tabula rasa quasi."

Als moderne Tänzerin will sie sich nicht bezeichnen: "Ich bin weniger an der Bewegung zur Musik im Raum interessiert als an den Inhalten." Dennoch, Salamon ist eine Geschichtenerzählerin. Mit leuchtenden Augen gesteht sie: "Ja, ich erzähle gern Geschichten, sehr gern. Ich liebe das Fiktionale." Jetzt also erzählen die Körper zweier alter Tänzer von einem Zeitabschnitt der Tanzgeschichte, aber es ist nicht ihre Biografie. Gemeinsam mit der Choreografin (unterstützt vom ehemaligen Tänzer, Kunsthistoriker und Leiter der internationalen Forschungsabteilung des Centre National de la Danse (CND), Christophe Wavelet) haben sie Erinnerungssplitter an ihre lange Bühnen- und Filmkarriere hervorgeholt und zusammengesetzt. "Ich wollte wissen, was sie zum Tanz gebracht hat, was sie motiviert hat, immer weiterzumachen", sagt Salamon: "Wir öffnen fiktionale Räume für die poetisch verdichteten persönlichen Erfahrungen."

Tipp

Setterfield und Gus Solomons jr., 2. 03. 12 Tanzquartier Wien www.tqw.at

("Kultur Magazin", 21.10.2016)

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