Chanel: Die wiedergefundene Sprache

Eine Ausstellung in Venedig zeigt Gabrielle Chanel als lesende Frau im Spiegel ihrer Bibliothek und Künstlerfreundschaften.

Wie in einem offenen Buch in einem Menschen lesen: dass diese Redensart sich ausgerechnet auf Gabrielle Chanel, die wohl bekannteste Couturiére der Modegeschichte und eine auch für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts relevante Person, anwenden lassen sollte, mag überraschen. Die Chanel gilt schließlich als eine geradezu mystische, von geheimnisvollen Narrativen umrankte Person, zum einen wegen ihres für die Initiation eines neuen Frauenbildes mitverantwortlichen Modeschaffens, zum anderen wegen ihrer Amouren und Affären, wegen ihrer engen Verbundenheit mit Künstlerpersönlichkeiten wie Cocteau, Diaghilev, Strawinski. Über diese Aura, das Nachleben ihrer Lebensgeschichte sozusagen, möchte sich der Kurator Jean-Louis Froment mit dem siebten Kapitel der von ihm betreuten "Culture Chanel"-Ausstellungsreihe zwar nicht hinwegsetzen, doch unternimmt er den ehrgeizigen Versuch, aus der umfangreichen Bibliothek der Modemacherin eine " criture biographique" abzuleiten und ein aus Textfragmenten und -überlagerungen konstituiertes, vielschichtiges Porträt zu zeichnen. Der Kurator selbst, ehemaliger Direktor des Museums für Gegenwartskunst in Bordeaux, wird in der Schau "La donna che legge" zum Ko-Autor einer Lebensgeschichte. Zu sehen ist diese Ausstellung noch bis Anfang 2017 in Ca Pesaro, einem von elf durch die Fondazione dei Musei Civici di Venezia verwalteten Häusern, das üblicherweise der Gegenwartskunst gewidmet ist.

Bücherliebe. Dass "La donna che legge" in diesem Palazzo unmittelbar am Canal Grande gezeigt wird, ist insofern kein Zufall, als Venedig in der Lebensgeschichte von Gabrielle Chanel eine besondere Rolle einnimmt. Immer wieder sucht das heute im Besitz der Familie Wertheimer stehende Modehaus nach Möglichkeiten, diese enge Verbundenheit auszudrücken: Die Restaurierung des goldenen Löwen an der Vorderseite der Markuskirche mit Geldmitteln des Unternehmens rührt etwa daher, zudem tauchen immer wieder formale Referenzen in Mode- oder Schmuckkreationen auf. Auch ein Defilee für die internationale Presse wurde bereits am Lido ausgerichtet. Und nun also diese Ausstellung, die auf einer etwas sperrigen Gegenständlichkeit beruht: eine Bibliothek zugänglich zu machen nämlich, ohne sie freilich einfach nachzubauen oder anderswo als im Appartement der Besitzerin zu rekonstruieren, das ist für einen Kurator eine einfache Sache nicht. Jean-Louis Froment hatte in den letzten Jahren indes ausreichend Gelegenheit, sich mit verschiedenen Teilaspekten im Leben der Chanel auseinanderzusetzen, und erweitert mit dieser Schau sein Engagement für das Maison um eine bibliophile Fingerübung. Insgesamt 350 Exponate werden in Ca Pesaro gezeigt; sie konstituieren einen Spannungsbogen, der sich durch sieben thematisch gegliederte Räume zieht. Nicht alle ausgestellten Objekte stammen aus dem Besitz der Chanel, einiges fügt Jean-Louis Froment als Querverweis auf das intellektuelle Leben während ihrer frühen Schaffensjahre hinzu. "Es geht darum, diese lesende Frau zu begleiten", sagte Froment am Rande der Ausstellungseröffnung, "und die Besucher der Ausstellung in ihren privatesten, einen sehr intimen Raum vordringen zu lassen."

»"Die Besucher sollen in den privatesten, einen sehr intimen Raum von Coco Chanel vordringen."«

Jean-Louis Froment

Rückzugsort. Das Lesen, fast so sehr wie das Schreiben, kommt nicht aus ohne einen Rückzugsort des Individuums im Sinn der Notwendigkeit jenes "Room of One s Own", von dem Virginia Woolf in ihrem berühmten, 1929 erschienen Essay als Grundvoraussetzung für die Möglichkeit eines Literaturschaffens durch Frauen spricht. In diesem Sinn hob auch die Präsidentin der Fondazione dei Musei civici di Venezia, Mariacristina Gribaudi, einzelne Punkte hervor, die sie besonders berührt hätten: "Alle kennen Coco Chanel, aber hier entdecken wir sie als eine Frau, die uns als Vorbild dient und ein Modell vorführt, nach dem es uns alle verlangt. Ich selbst bin fast erschaudert, als ich mich weiter und weiter in ihr Privatestes vorgelassen fühlte." Das In-sich-Ruhen wird hier also besonders betont, und es soll offenbar kontrapunktisch zur bislang dominierenden Darstellung der Gesellschaftsdame und Selfmade-Modemillionärin dienen. Nicht umsonst wird bereits im ersten Raum eine 1908 entstandene Fotografie gezeigt, auf der Gabrielle Chanel in einem Gartensessel eingenickt, mit einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß, zu sehen ist. Das ist ganz ohne Zweifel das Bild jener "donna che legge", die hier in den Mittelpunkt gestellt werden soll. Unter den vielen Ausstellungsstücken gibt es einige wenige, die den Betrachter besonders weit in die Privatsphäre der Chanel eindringen lassen beziehungsweise tatsächlich intime Einblicke gewähren. Einmal das nächstliegende, nämlich jenes Faksimile eines Auszugs aus dem Geburtenregister in Saumur: Dort wurde am 20. August 1883 die auf den Vortag zurückgehende Geburt der Tochter des fahrenden Händlers Henri Chasnel (sic!) vermerkt: Da weder er noch die (ledige) Mutter bei der Aufzeichnung anwesend waren, wurde der Familienname der neugeborenen Gabrielle ebenfalls unrichtig in das Register eingetragen. Ihrer späteren Weltkarriere freilich sollte das keinen Abbruch tun.

Geträumtes Leben. Über die prägenden Lektüren des Mädchens und der jungen Frau ist wenig bekannt: Als Zwölfjährige wurde sie nach dem Tod ihrer Mutter mit ihren Schwestern in ein Waisenhaus gebracht, wo sie sich, wie angenommen wird, als Leserin von relativ simpel gestrickten Sentimentalromanen die Zeit vertrieb. Es ist gut möglich, dass auf diese Zeit und, vollmundig gesprochen, diese literarische Prägung, ein Zitat zurückgeht, das als textueller Talisman von Gabrielle Chanel in Ehren gehalten wurde und ebenfalls in Venedig zu sehen ist. Von Hand auf einen kleinen Zettel übertragen, gefaltet und in ihrer Tasche verwahrt, liest sich dieses wie eine exhortative Vorschau auf die Entwicklungslinie ihrer eigenen Vita: "La vie qu on m ne est toujours peu de chose, la vie qu on r ve, voil la grande existence parce qu on la continuera au-del de la mort." Nach Irdischem im Sinne des "gelebten Lebens" zu streben, lohne sich also nicht, da nur das geträumte Leben als wahrhaft große Existenz seine Fortsetzung im Jenseits finden könne.

Es ist ein drolliger Einfall, dass Jean-Louis Froment ebenfalls an den Beginn der Ausstellung eine Handschrift von Gustave Flaubert aus "Madame Bovary" stellt: Gerade der Bovary wurde es ja zum Verhängnis, dass sie, befeuert von ihren (im 19. Jahrhundert noch weitgehend für Frauen als schädlich erachteten) Romanlektüren, nach Besserem strebte. Einen ähnlich tragischen Verlauf wie jenen der Bovary nahm Gabrielle Chanels Lebenslauf schließlich ja nicht.

Viele der ausgestellten Bücher sollen das enge Verhältnis der Chanel zu den Avantgarden ihrer Zeit illustrieren und vorführen, wie sehr ihre Künstlerfreundschaften ihr eigenes Schaffen, oder auch ihre Stellung in der Gesellschaft, prägten. Nicht wenige der Bücher sind mit Widmungen versehen, allerdings nicht immer an Gabrielle Chanel einen Fächer beschrieb Jean Cocteau etwa mit einem der Musikerin und Künstlermuse Misia Sert zugedachten Gedicht. Seine Berechtigung findet solch ein Objekt aufgrund des innigen Verhältnisses, das die beiden Frauen zueinander unterhielten. Ebenfalls von Cocteau stammen die handgeschriebenen Skizzen zu einer geplanten Biografie Gabrielle Chanels, zu der es letztlich nicht gekommen ist. Aus jenem Privatesten, dass manchen erschaudern lässt, ist wiederum ein handgeschriebenes Gedicht von Strawinski gegriffen, der sich voll Wonne an "Le ROUGE de CHANEL / sur le front de Igor" erinnert. Dass die Lippenstiftkollektion der Beautymarke Chanel heute ebenso heißt wie die erste Verszeile, dürfte angesichts der aus dem Vollen einer schöngeistigen Vita schöpfenden Spitzfindigkeit dieses Maisons nicht zwingend ein Zufall sein.

Mode-Aphorismen. "Manche Geheimnisse aus dem Leben eines Menschen muss man als Kurator aber wahren, man darf niemals alles zeigen, sagen und preisgeben", unterstrich Jean-Louis Froment zugleich in Venedig. "Eine Ausstellung sollte immer nur gerade so viel zeigen, dass es jedem Besucher möglich ist, daraus seine eigene Geschichte abzuleiten." Und letztlich ist es also der Kurator, der hier als großer Geschichtenerzähler auftritt und im Grunde nicht unähnlich Apollinaire oder Mallarm eine Art von "po sie concr te", von einer großen, aus vielen verschiedenen Versatzstücken zusammengestellten Assemblage zusammenstellt. So ist seine Autorität am Ende diejenige, die sich in dieser Konstellation über alles andere stellt. Ob das Gabrielle Chanel gefallen hätte, die doch zeitlebens der Idee nicht wirklich zugeneigt war, dass ihre Biografie niedergeschrieben werden sollte, bleibt offen. Zu Wort kommt sie selbst übrigens nur an einer Stelle, nämlich als Autorin einer Reihe von "Maximes et sentences", scherzhaft in der Tradition von Autoren wie La Rochefoucauld für die französische "Vogue" 1938 verfasst. An einer Stelle liest man da: "Wenn man ohne Flügel geboren wird, soll man doch keinesfalls verhindern, dass sie eines Tages wachsen könnten." Unzweifelhaft ein Querverweis auf jenes geträumte Leben, "la vie qu on r ve", von dem auf einem fein zusammengefalteten Zettel in der Tasche dieser lesenden Frau die Rede ist.

Tipp

"La donna che legge" ist noch bis 8. Jänner 2017 in Ca Pesaro am Canal Grande zu sehen, www.culture-chanel.com

("Kultur Magazin", 21.10.2016)

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