Oscar Nacht: David gegen Goliath

Die 84. Oscar-Nacht steht vor der Tür. Die Ähnlichkeiten mit dem Jahr 1977 sind verblüffend. Ist "The Artist" der neue "Rocky"?

So viel dürfte schon sicher sein, bevor in der Nacht auf Montag zum 84. Mal die Oscars verliehen werden: Die den Preis vergebende „Academy of Motion Pictures Arts and Sciences“ (AMPAS) wird sich heuer die Gelegenheit nicht nehmen lassen, die Geschichte des Kinos – und damit zweifellos auch sich selbst – zu feiern. Schließlich sind die beiden Favoriten der heurigen Academy-Awards-Gala ausgewiesene filmhistorische Liebesbriefe, und das sogar an die Stummfilmära. Mit 11 Nominierungen liegt die Kinderfantasy „Hugo“ knapp vorne: Ihr Regisseur Martin Scorsese, ohnehin die Hollywood-Ikone für Filmgeschichtsbewusstsein (und -rettung), feiert darin Werk und Wiederentdeckung des großen Pariser Stummfilmpioniers Georges Méliès. Ebenfalls ein persönliches Herzensanliegen ist der französische Film „The Artist“, der mit 10 Nominierungen dichtauf folgt und mittlerweile als der heißeste Siegesanwärter gehandelt wird: Regisseur Michael Hazanavicius brauchte Jahre, um seinen Tribut an das Ende von Hollywoods Stummfilmzeit zu finanzieren, weil er ihn stilgerecht im damaligen 4:3-Bildformat, in Schwarz-Weiß und vor allem (fast) ohne Dialog umsetzen wollte. Lässt man das Resultat trotz ein paar postmoderner Einlagen als Stummfilm gelten, dann ist es übrigens erst der fünfte in der Oscar-Geschichte, der als bester Film nominiert ist – und sollte „The Artist“ tatsächlich gewinnen, wäre er der zweite Stummfilm-Oscar-Sieger. Allein bei der ersten Oscar-Verleihung 1929 gewann kein Tonfilm: Denn da waren auch nur Stummfilme nominiert.

Eine Oscar-Gala in nur fünf Minuten. Überhaupt ist die erste Academy-Awards-Zeremonie etwas ungeeignet, um sie mit den heutigen Oscar-Nächten zu vergleichen, auch wenn ihre Kürze der nach vielen überlangen Showabenden zuletzt wieder merklich reduzierten Gala zum Vorbild gereichen würde: Denn die Ehrung der besten Filme der Jahre 1927 und 1928 dauerte keine fünf Minuten. Der Schauspielstar und damalige Academy-Präsident Douglas Fairbanks leitete die rasche Übergabe bei einem privaten Diner (Eintritt: 5 Dollar) im Hollywood Roosevelt Hotel, viele Preise waren bereits vorher abgeholt worden: Die Sieger hatte man schon drei Monate vor der Veranstaltung annonciert. Erst bei der zweiten Oscar-Gala 1930 wurden die Gewinner nicht vorab bekannt gegeben, und der für die Popularität des Preises wichtige „Wer wird es?“-Mitratefaktor etabliert. Ein entscheidender Schritt, um das eigentliche Ziel der Academy Awards umzusetzen: Denn Hollywoods Studiobosse erfanden den Oscar, um das Image der noch anfangs als Jahrmarktsvergnügen belächelten Filmbranche breitflächig zu verbessern. Wenig hat Hollywoods öffentliches Image so mitbestimmt wie die Oscars: Bei der Jugend mag das Interesse sinken, aber noch immer fiebert man weltweit der Nacht des berühmtesten Filmpreises entgegen – obwohl längst publik geworden ist, dass die Oscar-Entscheidungen bei Weitem nicht so unschuldig sind, wie sie gemeinhin daherkommen und aufgenommen werden. Damit sind nicht nur oft analysierte und kommentierte Vorlieben und Trends unter den AMPAS-Mitgliedern gemeint, aus denen sich die Wählerschaft rekrutiert. Vielmehr ist durchgesickert, dass selbst das Ergattern einer Nominierung mit beinharter Marketingstrategie zu tun hat: Das Filmbusiness ist eben vor allem ein Geschäft.

In den Kreis der Auserwählten kommt man heute nur über kostspielige Kampagnen, die Studios lavieren wohlüberlegt, wenn sie vorab entscheiden, für welchen Film und welche Darsteller sie ihre Werbedollars in einer gezielten Aktion investieren. Zum König dieser Oscar-Kampagnen hat sich mittlerweile Filmproduzent Harvey Weinstein stilisiert: 1996 begann mit „Der englische Patient“ die schlau eingefädelte Siegesserie von Filmen im Verleih der „Weinstein Company“, es folgten u. a. „Shakespeare in Love“ sowie der Vorjahressieger „The King‘s Speech“. Den Oscar-Wahlkampf 2012 führt Weinstein für „The Artist“, unter dem Motto „David gegen Goliath“: ein vergleichsweise billiger Stummfilm aus Frankreich konkurriert mit US-Großproduktionen!

1977: Year of the Underdog. Weinsteins Ansatz ist nicht mehr haltbar, seit „The Artist“ bei den Golden Globes und anderen Preisen triumphiert hat. Längst ist der angebliche Außenseiter haushoher Favorit. Da lohnt es sich, einen Blick 35 Jahre zurück zu werfen: Der Oscar-Legende nach war das Jahr 1977 eines, als David gegen Goliath triumphierte. Die vergleichsweise billige Boxersaga „Rocky“ gewann als erster Sportfilm den Hauptpreis und setzte sich überraschend gegen prestigeträchtigere Produktionen durch: Martin Scorseses Psychodrama „Taxi Driver“, Sidney Lumets Mediensatire „Network“ oder Alan J. Pakulas Watergate-Krimi „All the President‘s Men“ gelten heute als Klassiker, die damals durch die populäre Entscheidung der Academy für den Publikumsliebling „Rocky“ übergangen wurden.

Heißt es jedenfalls. Denn erst in der letzten Dekade ist durchgesickert, dass der Überraschungssieg von „Rocky“ ebenfalls ein fabrizierter Mythos ist – der noch immer weiterverbreitet wird, nicht zuletzt von Sylvester Stallone, der als Hauptdarsteller und Drehbuchautor des Boxerfilms über Nacht zum Star wurde. Tatsächlich hatten das Studio United Artists und sein Oscar-Kampagnen-Spezialist Lloyd Leipzig ein unschlagbares Rezept ausgekocht: „Rocky“ selbst wurde schon auf dem Weg ins Kino zum Underdog stilisiert – Stallone habe sein Herzensprojekt durchboxen müssen, auf höhere Angebote für sein Drehbuch verzichtet, um die Hauptrolle spielen zu dürfen. Mit einem Start in nur wenigen Kinos setzte man auf Mundpropaganda, nachdem Testvorführungen belegt hatten, dass der Film einen Nerv traf: Zur Feier von 200 Jahren Unabhängigkeit der USA war die Geschichte vom vermeintlich chancenlosen Underdog, der sich mit uramerikanischer Beharrlichkeit zum WM-Kampf hocharbeitet, Balsam auf den Wunden. Zum Finale hüllt sich der von Stallone gespielte Boxer Rocky sogar in die US-Flagge: ein optimistisches Gegenbild zur den Zeitgeist plagenden Misere aus Politskandalen, Medienzynismus und Amokläufen, wie sie die Oscar-Konkurrenten beschworen. War dieser Rocky nicht das filmische Gegenstück zum Erdnussfarmer Jimmy Carter, der es eben zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gebracht hatte?

Ein Oscar-Abend wie vor 35 Jahren? Aber eines war dieser Rocky jedenfalls sicher nicht: ein Überraschungssieger. Doch was mit der Werbezeile „His life was a million-to-one shot“ zum Selbstläufer und zum größten US-Kassenerfolg des Jahres 1976 geworden war, wurde kurzerhand auf den Oscar-Abend übertragen. Auch der kleine „Rocky“ habe sich trotz aussichtsloser Chancen von eins zu einer Million durchgesetzt. In Wirklichkeit wurde „Rocky“ zu dem Zeitpunkt längst als Favorit gehandelt: Genau wie „The Artist“ war der Boxerfilm 10-fach nominiert und erhielt zwar letztlich nur drei Statuetten, aber zwei der entscheidenden: bester Film und beste Regie (John G. Avildsen), dazu kam der beste Schnitt. Aber nicht nur beim angeblichen Underdog in der Favoritenrolle tun sich verblüffende Parallelen zwischen dem Oscar 2012 und dem von 1977 auf, auch in den anderen Hauptkategorien zeichnen sich Ähnlichkeiten ab.

INFO

Zum besten Hauptdarsteller wurde damals Peter Finch für sein Porträt eines ausgerasteten Nachrichtensprechers in „Network“ gewählt: das erste Mal, dass ein Schauspieler-Oscar posthum vergeben wurde. Viele sahen das vor allem als Sympathiebekundung für den wenige Monate zuvor an einem Herzinfarkt gestorbenen Finch. Und auch heuer könnte es einen Sympathiesieger geben: George Clooney, Liebling der Nespresso-Trinker und des liberalen Hollywood, liegt für seine Rolle in „The Descendants“ bei den Buchmachern vorne (obwohl „The Artist“-Darsteller Jean Dujardin zuletzt fast gleichgezogen hat) – und ein Preis für Clooney scheint überfällig, wiewohl er sich immerhin schon 2006 mit einem Nebendarsteller-Oscar für „Syriana“ trösten konnte. Beim besten Nebendarsteller wiederum liegt der bisher Oscar-lose kanadische Veteran Christopher Plummer für seine Rolle in „Beginners“ als Papa, der ein spätes Coming-out erlebt, haushoch vorne. Eine perfekte Entsprechung zum (überfälligen) Sieger von 1977: Charakterdarsteller Jason Robards gewann damals für seine Verkörperung des Chefredakteurs der „Washington Post“ in „All the President‘s Men“ (und dann übrigens im Folgejahr gleich noch mal den Nebenrollen-Oscar für „Julia“).

Viola Davis versus Meryl Streep. Als weibliche Hauptdarstellerin blieb 1977 Faye Dunaway als skrupellose TV-Aufsteigerin in „Network“ im dritten Anlauf siegreich: Ihr Gegenstück 2012 ist die Afroamerikanerin Viola Davis, die als einer der vielversprechendsten Stars Hollywoods gilt und bislang übergangen wurde. In Europa ist zwar allerorten von einem weiteren Oscar für Meryl Streeps Thatcher-Porträt in „The Iron Lady“ die Rede, aber in den USA wird Davis für ihre Rolle im Disney-Rassendrama „The Help“ ungleich höher gehandelt. Nächsten Montag wird man die Antwort auf die eine Frage wissen: Wer wird es? Darin liegt, egal wie abgekartet das Spiel, noch immer der Oscar-Reiz.


Oscars im TV: In der Nacht von 26. auf 27. Februar wird die 84. Oscar-Gala live aus Los Angeles im Fernsehen übertragen: In ORF eins ab 1.35 h morgens (die Zeremonie beginnt gegen 2.30 h).

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