Die Ich-Pleite: Früher

Es hat auch Vorteile über – äh – dreißig zu sein. Gewisse Dinge passieren einem einfach nicht mehr.

Es hat auch Vorteile über – äh – dreißig zu sein. Gewisse Dinge passieren einem einfach nicht mehr. Zum Beispiel gestern auf der Party: Früher hätte ich innerhalb von fünf Minuten 15 Leute kennengelernt, mit denen ich denselben Literatur-, Film- und Musikgeschmack geteilt hätte. Weitere fünf Minuten hätten ausgereicht, um uns philosophisch, politisch und weltanschaulich zu einigen. Und am Ende des Abends, an dem ich mehr getrunken gehabt hätte, als gesund gewesen wäre, hätten wir uns unsere Kindheitstraumata, Liebesdramen und beruflichen Misserfolge gebeichtet. Selbstverständlich hätten wir uns gleich für den nächsten Tag zum Frühstück verabredet, weil ein Leben ohne einander ja jetzt nicht mehr vorstellbar gewesen wäre. Am nächsten Tag dann wären wir mit einem Schädel vom Ausmaß eines kleinen Planeten aufgewacht und hätten mit Schrecken daran gedacht, dass wir in 20 Minuten einen Menschen treffen müssen, mit dem wir vor 17 Stunden noch per Sie waren. So etwas passiert einem in unserem Alter nicht mehr. Geschweige denn, dass wir gar am nächsten Tag in einer fremden Wohnung aufwachen – neben jemandem, an dessen Namen wir uns auf die Schnelle nicht mehr erinnern können! Wenn ich die Augen aufmache, weiß ich sofort, wo ich bin. Allein in meinem Bett in meinem Schlafzimmer. Auch wenn mir im ersten Moment der Manet-Druck an der Wand da etwas fremd vorkommt. Und der Kleiderschrank, Marke „frühes Ikea“. Und die gemusterte Bettwäsche. Und der Früher-war-ich-einmal-aus-Frottee-Morgenrock. Und schon geht die Tür auf, und jemand, den ich noch nie gesehen habe, grinst herein: „Na, Rausch ausgeschlafen?“ Wenigstens hab ich kein Frühstück mit ihm ausgemacht. Oder?

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