Die Ich-Pleite: Lebenserwartungsbonus

In gut zwei Wochen hören wir auf zu altern. Zumindest für heuer, zumindest statistisch.

Fragen Sie mich nicht, wie, aber wenn man es umrechnet, ist das der Lebenserwartungsbonus, der sich jedes Jahr für uns Mitglieder der europäischen Wohlstandsgesellschaft ausgeht. Von Jänner bis Ende September altern wir ganz normal und dann bleiben wir so, wie wir sind. Das heißt auch, dass ich in gut zwei Wochen für heuer mein Anti-Aging-Programm einstellen kann. In der Früh muss ich nicht mehr aufstehen und noch schlaftrunken ins Laufgewand schlüpfen, damit ich vor Bürobeginn mein halbstündiges Herz-Kreislauf-Tod-Risiko-Gegenprogramm absolvieren kann. Ich brauche kein kerngesundes Müsli mit Antioxidantien aus Früchten mehr zu essen und kann den Anti-Krebsrisiko-Grüntee stehen lassen. Ich muss nicht muskel- und immunabwehrstärkend in die Arbeit radeln. Ich brauche nicht mehr antistressmäßig positiv zu denken, wenn mir ein Gfrast vor der Nase den letzten Sitzplatz wegschnappt. Im Büro lasse ich die Treppe links liegen und mache mir auch keine Gedanken über eine bandscheibenoptimierte Sitzhaltung am Schreibtisch. Ich höre auf, die Pausenzigaretten penibel zu zählen, und mittags hole ich mir einen Transfette-reichen Snack von gegenüber. Für abends verabrede ich mich mit einem nicht hundertprozentig psycheschonenden Mann und freue mich schon auf das nicht gecancelte Dinner, das ich stoffwechselmäßig ungut nach 20 Uhr einnehme. Natürlich zusammen mit entspannenden alkoholischen Getränken. Das einzige Problem ist, dass die Anti-Aging-Aufgabe wegfällt. Da kann sich eine innere Leere ergeben. Und Depressionen sind bekanntlich ein großes Gefahrenpotenzial für die Senkung der Lebenserwartung.

Schaufenster.DiePresse.com/DieIchPleite

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