Adèle Haenel: „Ich spiele, wie ich fühle“

Adèle Haenel
Adèle HaenelReuters
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Adèle Haenel zählt zur Topriege französischer Schauspielerinnen: Ein Gespräch über extreme Gefühle und die Tücken des Deutschen.

Wenn man so will, begann Adèle Haenels Karriere im deutschsprachigen Kino mit einer Lüge. In Frankreich ist die 27-jährige Schauspielerin über den Shootingstarstatus längst hinausgewachsen, sie gewann bereits zwei Césars und arbeitete mit renommierten Regisseuren wie den Dardenne-Brüdern. In der deutsch-österreichischen Tragikomödie „Die Blumen von gestern“ gibt sie nun an der Seite von Lars Eidinger eine Mitarbeiterin eines deutschen Holocaust-Forschungszentrums – und spricht erstmals in einem Film Deutsch.

Regen Kontakt mit der deutschen Sprache hatte Haenel, deren Vater Österreicher ist, schon als Kind, „aber das waren eher unnütze Sachen“, erzählt sie am Telefon: „Tischdecken zum Beispiel.“ Die Deutschstunden in der Schule halfen ihr da auch nicht viel weiter: „So ist das in Frankreich. Da ist man nach sieben oder acht Jahren Unterricht total unfähig, einen korrekten Satz aufzubauen. Ich konnte am Ende der Schule also gar kein Deutsch.“ Ihrer Agentur gab sie dennoch an, die Sprache zu beherrschen – und dachte sich, dass sie sie im Fall eines Angebots eben lernen müsse. So kam es auch: Der deutsche Regisseur Chris Kraus engagierte sie für „Die Blumen von gestern“, obwohl er natürlich bemerkt haben musste, dass Haenel nicht wirklich Deutsch konnte. Und sie stürzte sich in ein intensives dreimonatiges Sprachlernabenteuer, an dessen Ende sie „im Alltag“ Deutsch sprechen konnte.

Und im Film: Sie spielt die psychisch labile Zazie, die Enkelin eines Holocaust-Opfers, die als Praktikantin aus Frankreich an die Zentralstelle Ludwigsburg kommt. Dort arbeitet der zutiefst moralische Historiker Toto (Eidinger), seinerseits Enkel eines Nazi-Verbrechers. Die beiden verlieben sich, doch erzählt der Film nicht nur von einer schwierigen Romanze, sondern auch – auf skurrile und zuweilen krawallige Art – von versteifter Vergangenheitsbewältigung, von Schuld und Opferrollen, die sich über Generationen halten. Dem allen nähert sich Kraus mit Humor an – da fliegen Hunde durch ein Autofenster, da wird geprügelt, da schüttet sich Zazie in einem Moment des Ausrastens einen Topf Farbe über den Kopf, da gibt es sogar eine kleine Verfolgungsjagd mit Burschenschaftern durch den Wiener Augarten. „Es geht nicht darum, schockierende Scherze zu machen“, sagt Haenel, „es geht darum, Humor zu haben, damit wir unser Erbe ertragen können.“

„Die Blumen von gestern“
„Die Blumen von gestern“(c) Dor Film

„Eine menschliche Obsession.“ Ganz anders, nämlich historisch völlig unbelastet, ist die Rolle, die Haenel im Drama „Das unbekannte Mädchen“ der Brüder Dardenne spielt, der am 10.  Februar ins Kino kommt: Eine junge Ärztin fühlt sich für den Mord an einer jungen Frau verantwortlich – und beginnt selbstständig, die Umstände deren Todes zu ermitteln. Die Ärztin ist dabei ein unbeschriebenes Blatt, ein leerer Charakter ohne Freunde, Privatleben oder eine Vorgeschichte, dem Haenel im Lauf des Films eine einnehmende Persönlichkeit einhaucht. Für sie sei die Figur ein „Minimumcharakter“: „Für mich war die Hauptsache, eine Figur zu spielen, die keine Heldin ist. Mir war wichtig, dass diese Ärztin keinen Grund hat, das zu tun, was sie tut. Ihre Obsession ist einfach nur eine menschliche Obsession.“

Dass ein Charakter von seiner Vergangenheit geformt wird, glaubt Haenel ohnehin nicht. „Ich überlege niemals: Wie war dieser Mensch vor dem Film, wie wird er nach dem Film sein? Es ist so kompliziert, sich selbst zu verstehen – wie soll ich sagen, was für ein Charakter das ist? Ein Charakter entsteht, wenn eine Idee auf eine konkrete Zeit fällt“, sagt sie, „ich spiele, wie ich fühle.“

Die Schauspielerei begleitet Haenel seit ihrer Kindheit. „Ich wusste nicht, dass das ein Beruf ist, aber das Theater war meine erste Leidenschaft.“ Mit 13 Jahren spielte sie ihre erste Kinorolle in „Les Diables“ („Kleine Teufel“) – sie hatte eigentlich nur ihren Bruder zum Casting begleiten wollen, war dann aber selbst für eine der Hauptrollen ausgewählt worden. 2007 spielte sie im Coming-of-Age-Film „Water Lilies“, dessen Regisseurin Céline Sciamma ist – heute ihre Partnerin. Für „Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“ gewann sie 2014 den César als beste Nebendarstellerin, für ihre Darstellung einer widerspenstigen Frau, die in „Liebe auf den ersten Schlag“ der Armee beitritt, bekam sie 2015 einen weiteren – als beste Hauptdarstellerin.

Klugheit und Instinkt. Eine Schauspielschule besuchte Haenel nie, stattdessen absolvierte sie ein intensives wirtschaftliches Vorbereitungsstudium. „Ich wollte etwas lernen“, sagt sie. Als Schauspielerin, die mit viel Klugheit und Instinkt an die Arbeit geht, beschreiben sie Kollegen. Ihre Rollen wählt sie intuitiv: „Habe ich Lust, diesen Film zu machen? Es geht nicht um Gründe, es geht um Gefühle.“ Auf stereotype Frauenrollen habe sie jedenfalls keine Lust, mittlerweile würden ihr solche aber auch gar nicht mehr angeboten – schließlich sei ihr feministisches Engagement in der Branche schon bekannt. „Das Problem ist, dass vielen die Fantasie fehlt. Die klassischen femininen Rollen sind immer die gleichen. Zu denken, dass sich Frauen wie Frauen und Männer wie Männer benehmen müssen, ist eine feige Art zu denken: Damit muss man nichts riskieren. Für mich war es nie eine Frage, dass ich alles machen kann.“

Im Interview ärgert sich Haenel immer wieder, wenn ihr ein Wort auf Deutsch nicht einfällt, zwischendurch schlägt sie eines nach, wenn es sie nicht loslässt. „Voilà!“, ruft sie aus, wenn man es erraten hat, bevor das Wörterbuch ihr Auskunft geben konnte. Beim Dreh zu „Die Blumen von gestern“ habe sie ganz schön geschwitzt, erzählt sie, nicht nur wegen einiger Wörter, die wie Zungenbrecher für sie waren, auch schauspielerisch war es eine besondere Herausforderung: „Zazie ist extrem in ihren Gefühlen. Um das zu spielen, muss man loslassen – aber ich musste das kontrolliert tun: Denn wenn ich komplett loslasse, spreche ich Französisch und nicht Deutsch.“

Für die Rolle der Zazie war im Übrigen erst die Französin Eva Green vorgesehen, die sonst vor allem in amerikanischen Großproduktionen zu sehen ist („James Bond: Casino Royale“, „Sin City: A Dame to Kill for“, „Die Insel der besonderen Kinder“). Auch Marion Cotillard, auf deren Spuren zu wandern Haenel gern attestiert wird, hat sich vom französischen Schauspiel- zum internationalen Hollywood-Star gemausert. Solche Ambitionen sind Haenel aber fern. „Ich habe das Gefühl, es gibt hier im französischen Theater und Kino sehr viel zu tun“, sagt sie. „Ich habe keine große Lust, in die USA zu gehen.“ Zumal ihr Glamour und ein großes Publikum nicht viel bedeuten: „Was mir am meisten gefällt, ist, wenn ein Jugendlicher zu mir kommt und sagt: ,Ich habe deinen Film gesehen, und dann habe ich dein Interview gelesen und die Bücher gelesen, von denen du gesprochen hast.‘ Wenn es nur zwei Personen sind, die ich so anfachen konnte, dann ist das schon gut“, meint sie, „dann kann ich in Pension gehen.“

Tipp

„Die Blumen von gestern“. Ein Film von Chris Kraus, mit Adèle Haenel, Lars Eidinger, Hannah Herzsprung, Jan Josef Liefers. Ab 13. Jänner im Kino.

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