Toilettenlektüre mit Kultstatus

Pierpaolo Ferrari hat eine Schwäche für Gegenstände jeglicher Art.
Pierpaolo Ferrari hat eine Schwäche für Gegenstände jeglicher Art.(c) Beigestellt
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Fotograf Pierpaolo Ferrari macht gemeinsam mit dem Künstler Maurizio Cattelan das Fotomagazin „Toiletpaper“. Unter anderem mit Retro-Style als Provokation.

Das Atelier des Fotografen Pierpaolo Ferrari, im Mailänder Universitätsviertel Città Studi, gleicht dem Zimmer, das man sich als Kind immer gewünscht hat: buntes Chaos. Hier ein grüner Riesenkaktus aus Kunststoff, dort ein grauer Hocker in Form eines Grabsteins mit der Inschrift „The End“. Der große Tisch ist fast zur Gänze mit Zeitschriften, bunten Emailletellern und -bechern bedeckt, im typischen Stil der 1960er-Jahre. Auf dem Retro-Beistelltisch steht ein Becher, der eine Kröte im McDonalds-Weckerl zeigt. Daneben ein Teller, bedruckt mit rotem Spaghettimuster. „Na ja, Spaghetti sind überhaupt gerade der Hit. Die Nobelschuh-Marke Santoni will dieses Muster für eines seiner Modelle“, erzählt Ferrari.

Erblickt man den Hausherrn, begreift man schnell, warum er sich in seiner Villa Kunterbunt so wohlfühlt. Nicht nur äußerlich, auch mit seiner einnehmend freundlichen Art könnte er der leibhaftige Peter Pan sein. Das hier ist sein Reich. Er teilt es sich mit seiner schnurrenden Muse M. Sie hat das flauschigste aller Katzenfelle und eine witzig platte Nase. Ob sie für den Kater Garfield Modell gestanden sei? „Nein, das nicht, aber für mich schon. Und zwar für ein Titelblatt von ,Le Monde‘. Danach habe ich sie behalten. Auch ,Vogue America‘ wollte sie für eine ihrer Ausgaben und hat ihr sogar ein Instagram-Profil eingerichtet. So viel ich weiß, hat sie schon mehr als 40.000 Likes erzielt“, sagt Ferrari. Neben den Tieren, die er oft für die Shootings verwendet, hat Ferrari zweifelsohne auch eine Schwäche für Gegenstände jeglicher Art. Besonders hat es ihm ein Ding angetan, das üblicherweise in jedem Haushalt zu finden ist: „Natürlich das Klopapier!“. Und „Toiletpaper“ heißt auch das Magazin, das er im Tandem mit dem Künstler Maurizio Cattelan seit 2009 zweimal im Jahr veröffentlicht. 

Musikaffin. Auch Plattencover gehörten zum Portfolio von Pierpaolo Ferrari.
Musikaffin. Auch Plattencover gehörten zum Portfolio von Pierpaolo Ferrari. (c) Beigestellt

Bildlastig. 22 Fotos, fast alle davon auf jeweils eine Doppelseite gedruckt, ganz ohne Bildtext – so etwas wie ein Markenzeichen der Zeitschrift „und super praktisch“, meint Ferrari. „Denn erstens braucht man sie nicht zu übersetzen, zweitens kann so jeder das herauslesen, was er will.“ Er und Cattelan kennen einander seit Jahren. Ferraris Werdegang hat mit Werbefotos begonnen. Bei der Werbeagentur McCann hat er schließlich Cattelan kennengelernt und für diesen immer wieder Porträtfotos gemacht. Bis dann der Auftrag von der amerikanischen Modezeitschrift „W“ kam: Einmal im Jahr erscheint eine Ausgabe, die ausschließlich der Kunst gewidmet ist. „Wir hatten viel Spaß dabei, deshalb dachten wir: Warum machen wir nicht unser eigenes Magazin?“

Finanziert hat die ersten vier „Toiletpaper“-Ausgaben Dakis Joannou oder vielmehr: seine Deste Foundation of Contemporary Art in Athen – Joannou ist einer der weltweit größten Sammler von Jeff Koons und Maurizio Cattelan. Den Magazintitel habe Maurizio ausgesucht, meint Ferrari: „Damit bezog er sich auf die letzte Verdauungsphase der Fotos. Und der ideale Ort für ein Magazin ist eben die Toilette.“ Catellans skurriler und gleichzeitig provokanter Stil (wie etwa: „L.O.V.E.“, ein gigantischer Mittelfinger, den er direkt vor der Mailänder Börse platziert hat, oder „Him“, ein kniender Hitler im Kinderformat) hat ihn zum Star der Kunstszene gemacht. Läuft die Zusammenarbeit mit einem international erfolgreichen Künstler immer reibungslos ab? „Wir kleben zusammen wie die Piadina Romagnola (laut Originalrezept aus der Region Emilia Romagna ein Fladenbrot mit Schinken und Käse gefüllt, Anm. d. A.)“, antwortet Ferrari. Es sei sogar gut, dass Catellan der Star ist, das erlaube Ferrari, seine Gewohnheiten zu pflegen: „Ich bin nämlich der schnellste Faulpelz, den es gibt.“ Seine Ideen schöpfe er aus seinem unmittelbaren Umfeld. „Ästhetik ist die Art und Weise, in der man eine Idee darstellt.“ Ferrari bedient sich hierfür der Fotografie, Cattelan der Kunst. Für „Toiletpaper“ spielt man eben vierhändig. Selten am selben Ort, meistens werden über Skype Ideen ausgetauscht. Cattelan ­ist oft in New York, Ferrari gern in Paris. ­Zu­letzt war er in Marokko, wo er Paloma Picasso porträtiert hat.

Publikation. Das Magazin „Toilet­paper“ wird seit 2009 zweimal im Jahr veröffentlicht.
Publikation. Das Magazin „Toilet­paper“ wird seit 2009 zweimal im Jahr veröffentlicht. (c) Beigestellt

Flashmobs für Mailänder Fashionistas. Mittlerweile könnte man von „Toiletpaper“-Flashmobs oder Aktionen in diese Richtung sprechen. Ende September 2016 hat ein „Toiletpaper“-Pop-up-Store in Mailand, gleich beim Corso Como, einer der beliebtesten Adressen der Fashionistas, zehn Tage lang für Aufregung und großen Andrang gesorgt. Das Magazin habe sich wie ein Virus verbreitet, so Ferrari. Viele der Still-Life-Fotos, die ursprünglich im Magazin zu sehen waren, sind heute auf den Gadgets (Taschen, Seifen, Kalendern, Uhren) und Designgegenständen (vom Tisch bis hin zum Teppich, Spiegel, Kasten und Tapeten) aufgedruckt. Denn irgendwann kreuzten sich die Wege von Ferrari und Cattelan mit denen von Charley Vezza und Stefano Seletti, den kreativen Köpfen von Gufram beziehungsweise Seletti. Und Gufram und Seletti stehen seit eh und je auf Radical Design. Dass man auf der gleichen Welle surfte, bestätige die Skulptur „God“: Auf dem Titelblatt der „Toiletpaper“-Ausgabe von Dezember 2012 war der berühmte Gufram Cactus von Guido Drocco und Franco Mello (Baujahr 1972) mit zwei (Kunststoff-)Straußeneiern, eines links und eines rechts, zu sehen.
Die Kreationen des Duos Ferrari & Cattelan sind meistens zweideutig, manchmal aber absolut eindeutig. Weswegen „Toiletpaper“ einmal auch in die Fänge der amerikanischen Zensur kam: Auf einem der Titelblätter des US-Magazins „Vice“ sah man neben einer Saugglocke und einer Heftmaschine auch einen Dildo.

„Unsere Auftraggeber wollen uns aber, gerade weil wir aus der Reihe tanzen“, meint Ferrari. Auch die Modezeitschriften. Er selbst hat viel mit diesen gearbeitet, allen voran mit „Uomo Vogue“. Heute gehören zu den Auftraggebern viel mehr Zeitschriften wie „Die Zeit“ (für die man 2016 alle Titelbilder der Beilage „Zeit Magazin“ anfertigte; aus 22 davon setzt sich die gerade erst erschienene neue „Toiletpaper“-Ausgabe zusammen), „Le Monde“, „New York Times“, „New Yorker“, „Washington Post“. Wenn es aber dann doch ein Fashion-Shooting sein soll, sieht man oft von einer teuren Jacke oder einem Kaschmirpullover nur ein paar Zentimeter des Ärmels oder vom atemberaubenden Chiffonkleid gerade einmal einen Zipfel. „Kommt halt darauf an, ob sich der Kunde mit ­uns amüsieren will oder nicht.“ Konkret kann das auch heißen: Ob er gewillt ist, eine seiner sechsstellig teuren Kreationen in zig Stücke geschnitten zu sehen oder nicht. „Andererseits, wenn man uns ruft, dann sucht man eher etwas Verstörendes als etwa Vertrautes.“

Retro. Auffallend ist der Retro-Style. „Comfort Zone“, sagt dazu Pierpaolo Ferrari.
Retro. Auffallend ist der Retro-Style. „Comfort Zone“, sagt dazu Pierpaolo Ferrari. (c) Beigestellt

„Toiletpaper-“Produkte im Online-Shop. Wobei das Verstörende nicht immer gleich ins Auge fällt. Denn auffallend ist in erster Linie der Retro-Style. „Das ist ein Mix aus Fashion-Shooting, Tradition und Zeitgeist. Heraus kommt so etwas wie eine ‚Comfort Zone‘.“ Wohlig und doch anregend. Das erklärt wahrscheinlich auch (zum Teil zumindest) die besondere Aufmerksamkeit, die die Marke „Toiletpaper“ gerade genießt. Ende des Vorjahrs stattete man damit die Auslagen der Pariser Galeries Lafayette aus und war zu Gast bei der von der Art Basel organisierten Kunstmesse Untitled. In der Lounge der Fondation Beyeler konnte man „Seletti Wears Toiletpaper“- Teppiche sehen, zusammen mit „THE END“- Grabsteinhocker und anderen Gegenständen der Kollektion. Mittlerweile kann man die „Toiletpaper“-Produkte auch alle online kaufen. Wer einen Blick in die Website www.shoptoiletpaper.com wirft, der bekommt außerdem eine vage Idee davon, wie es in Pierpaolo Ferraris Werkstatt aussieht.

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