Wien Modern: Die Entführung der Ohren

Bernhard Günther. Er leitet seit 2016 das von Claudio Abbado gegründete Festival Wien Modern.
Bernhard Günther. Er leitet seit 2016 das von Claudio Abbado gegründete Festival Wien Modern.(c) Carolina Frank
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Bernhard Günther möchte bei Wien Modern alle Sinnlichkeit der neuen Musik zelebrieren.

Venedig. Aus unterschiedlichen Richtungen und Entfernungen schallen die Glocken über die Lagune. Man hört sich selbst die paar Stufen zur Chiesa di San Lorenzo hochsteigen – und wenig später fällt die riesige Eingangstür mit Knarren und Donnerhall hinter einem ins Schloss . . . Schon wenn Bernhard Günther von diesem Setting erzählt, gerät er ins Schwärmen: Es sind nämlich allein unsere Ohren, die uns im Nu in die Serenissima entführen – mittels Surround-Sound, erzeugt von Lautsprechern, die das Publikum umringen. „Allein das ist schon ein Erlebnis“, sagt Günther, „aber wie Olga Neuwirth dann mit all den Möglichkeiten umgeht, auf welche Reise sie und das Ensemble Intercontemporain das Publikum bei geschlossenenen Augen am 20. 11. mitnehmen, das macht ‚Le Encantadas‘ für mich zu einem ihrer besten Werke – und zu Kopfkino pur!“

„Bilder im Kopf“ lautet das Motto von Wien Modern 2017, der 30. Auflage des von Claudio Abbado gegründeten Festivals. „Es geht um die Imaginationskraft, die die Musik entfesselt, um das, was man sieht, wenn man beim Hören die Augen schließt. Das gab’s nicht nur im Barock oder im Impressionismus, sondern immer mehr auch in der Musik der vergangenen Jahrzehnte.“ Günther ist seit dem Vorjahr künstlerischer Leiter. Abbados Gründungsidee hält er weiter hoch: Die Programmlücke zur Gegenwart zu schließen, die großen Werke des 20. und 21. Jahrhunderts auch in die großen Säle Wiens und damit mehr Menschen näherzubringen. „Das Publikum für Neue Musik ist viel größer, als man denkt. Vergangenes Jahr hatten wir fast 27.000 Besucher – das ist kein Nischenphänomen. Das Potenzial in Wien halte ich aber für noch viel größer, das Potenzial dessen, was die zeitgenössische Musik in all ihrer Breite inzwischen ist.“

Rauschhaft. Dabei gehört es zu den vornehmsten Aufgaben, Klischees zu überwinden. „Lange Zeit herrschte ja im 20. Jahrhundert eine Art Bilderverbot: Die Komponisten haben ihre Kunst so kommuniziert, als dürfe es nur Abstraktion geben, als könne man nur über Technik reden, als wäre Sinnlichkeit ein Tabu.“ Das provozierte Widerspruch. 1973 rief eine Handvoll junger Komponisten um Gérard Grisey in Paris die „Musique spectrale“ ins Leben, bei der sie den penibel erforschten Klang und seine schillernden Farben zum neuen Leitbild erklärten. „In dieser Unverblümtheit war das revolutionär: Plötzlich klingen schon die Titel der Stücke wieder nach Debussy. Da gibt es Traumhaftes zu entdecken, gerade für ein Publikum, das so etwas in der zeitgenössischen Musik gar nicht für möglich hielte“, ist Günther sicher. Etwa Griseys großartigen Zyklus „Les espaces acoustiques“, bei dem sich ein Solostück für Bratsche zu einem rauschhaften Finale für großes Orchester und vier konzertierende Hörner auswächst. Die Aufführung am 16. 11. legt das Festival in junge Hände: Simeon Pironkoff studiert das Werk mit den Studierenden der Mdw ein – eines von mehreren Projekten in Kooperation mit der Musikuni zu deren 200-jährigem Bestehen und zugleich ein Nachweis für die selbstverständliche Virtuosität des Nachwuchses sogar bei komplexen zeitgenössischen Partituren. Das Abschlusskonzert (am 1. 12.) präsentiert etwa die sechs Siegerwerke des Mdw-Kompositionswettbewerbs „Bilder im Kopf“. Zuvor profitiert auch das „Claudio Abbado Konzert“ von jungen Talenten, wenn am 4. 11. das Webern Symphonieorchester und Studierende des Conservatoire de Paris unter Ilan Volkov zusammenwirken: Zu hören sind das Akkordeonkonzert von Georges Aperghis und Hugues Dufourts „Le passage du Styx d’après Patinir“, das sich auf ein Gemälde des Renaissancekünstlers Joachim Patinir bezieht. Für Günther sind beide Stücke von 2015 „Meisterwerke der Gegenwart mit fantastischer Orchesterbehandlung. Dufourt und Aperghis entsprechen heute dem, was zu Abbados Zeiten Boulez und Nono waren – das muss sich nur noch stärker herumsprechen.“

Altarabische Dichtung. Auf „Das Imaginäre nach Lacan“ der Komponistin Iris ter Schiphorst ist Günther „besonders gespannt, weil sie ein brandaktuelles Thema verarbeitet: Die Solistin singt und spricht teils dieselben altarabischen Dichtungen einmal in westlicher Kleidung, einmal arabisch verschleiert.“ Wie Sehen und Hören einander bedingen können, zeigt nicht zuletzt Péter Eötvös mit seiner „Chinese Opera“, die keineswegs enthält, was man vermutet: keine Oper – ein Orchesterstück, nichts Orientalisches –, aber Musik gewordenes Theater. Eötvös hat 1986 den Spieß umgedreht und por­trätiert vier Regisseure des Musiktheaters: Peter Brook, Luc Bondy, Klaus Michael Grüber, Patrice Chéreau. Der Titel rührt daher, dass die chinesische Oper durch eine Fülle von lokalen Traditionen geprägt ist. Der Komponist selbst steht am Pult des Klangforums Wien (5. 11.). Die Wiener Symphoniker wirken an einem Großprojekt mit, das vor der Eröffnung steigt: Unter Peter Rundel spielen sie live Philippe Schoellers Soundtrack (2014) zu „J’accuse“, dem Antikriegsfilm von Abel Glance (1919). Dabei zeigt sich, wie stark Musik die Imagination beeinflussen kann  – wie sie, so Günther, „ihren eigenen Film erzählt“.

Im falschen Film wähnten sich hingegen Komponist, Interpreten und Publikum 1968 bei der in Tumulten versunkenen Uraufführung von Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“. Das Werk basiert auf einem historischen Schiffsunglück von 1816, bei dem die ärmsten Passagiere auf einem untauglichen Floß großteils umkamen, während Reiche und Offiziere sich auf Rettungsbooten in Sicherheit brachten. Diese politische Dimension führte zum Eklat – und hat angesichts ertrinkender Flüchtlinge wieder Brisanz. Deshalb wird das Festival am 2. 11. mit Henzes Werk eröffnet. Auf die Besetzung mit dem strahlenden Sopran Sarah Wegener, Starbariton Matthias Goerne, Sven-Eric Bechtolf als Sprecher, dem Schoenberg-Chor, den Wiener Sängerknaben und dem RSO Wien unter Cornelius Meister ist Günther „ein wenig stolz“: „Es geht bei Wien Modern seit Abbado darum, die Musik der vergangenen Jahrzehnte so gut und prominent wie möglich zu präsentieren.“

Tipp

Wien Modern. Vom 31. Oktober bis 1. Dezember lautet das Motto „Bilder im Kopf“. Im Konzerthaus und Musikverein sowie an zwei Dutzend weiteren Spielstätten stehen 100 Veranstaltungen mit 73 Ur- und Erstaufführungen auf dem Programm. www.wienmodern.at

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