Randerscheinung: Müde

Was sagt man eigentlich als gut erzogener Mensch, wenn jemand gähnt?

Also gibt es ein „Mahlzeit!“- oder „Gesundheit!“-Pendant für Müde? Und soll man eigentlich darauf eingehen, sich etwa nach dem Grund für die Müdigkeit erkundigen? Oder eher so tun, als hätte man gar nichts bemerkt? Ich frage das alles nicht ganz ohne Grund. Es gähnen nämlich immer mehr Menschen um mich herum. Auf der Straße, im Büro, in Lokalen. Das könnte mit dem Klimawandel ebenso zu tun haben wie mit den immer höheren Ansprüchen in einer globalisierten Welt. Oder vielleicht am Ende gar mit zu wenig Schlaf? Ich weiß es nicht. Hand vorhalten ist jedenfalls nie schlecht, und ob sich Gähngeräusche nicht zumindest geringfügig unterdrücken lassen, ist auch zumindest eine Überlegung wert. Ich selbst bin übrigens andauernd müde. Und langsam gehen mir die Argumente dafür aus. Der Jüngste schläft in aller Regel klaglos, und in der Früh inzwischen länger als ich, sodass ich nach all den hier über viele Jahre geführten Klagen nun derjenige bin, der durch sein morgendliches Herumwandern den Rest der Familie aufweckt. Wenn dann alle wach sind, würde ich gern wieder ins Bett gehen. Komme ich abends nach Hause, hängt mir mein frühes Aufstehen erst so richtig nach. Wobei das mit dem Zu-Hause-müde-Sein auch eine komplizierte Sache ist. Allzu früh ins Bett gehen erregt größtes Unverständnis. Ist man aber endlich erschöpft in den dafür vorgesehenen Möbeln in den Wohnräumen versunken, wird gern gefragt, warum man denn nicht schlafen gehe, wenn man so offensichtlich müde ist. Und in dieser Frage ist meist mindestens so viel Tadel wie Fürsorge enthalten. Deshalb: Müde ist man immer am besten allein. Und wie sagt man noch schnell, wenn jemand gähnt?

Schaufenster.DiePresse.com/Randerscheinung

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