Randerscheinung: Perspektive

Der Festsaal ist viel zu klein. Die Türen stehen weit offen. Die Hälfte von denen, die drinnen sein sollten, stehen draußen herum.

Hier ist es kühler, man hört die Zeremonie trotzdem. Der Jüngste schaut sehnsüchtig auf das noch nicht eröffnete Buffet. In ein paar Minuten wird seinem Bruder feierlich das Maturazeugnis überreicht. Wenn er an der Reihe ist, werde ich den Jüngsten kurz hochheben und versuchen, selbst einen Blick auf meinen Erstgeborenen zu erhaschen. Das ist ein großer Vorteil von kleinen Kindern, man kann Ereignisse, die drohen zu förmlich, zu nahe, zu hermetisch zu geraten, so ein wenig vom Rand aus miterleben. Mir ist der Rand meist gerade recht, heute aber ganz besonders. Wenn der Jüngste einmal Matura macht, werde ich fast sechzig sein. Als der Älteste zur Welt gekommen ist, war ich Mitte zwanzig. Aus dieser Perspektive kriegt das Leben plötzlich Ränder. Und vieles, was man spontan drüber sagen würde in diesem Bilanz fordernden Moment, fühlt sich an, als würde es tatsächlich stimmen. Wie rasend schnell das Leben vergeht, zum Beispiel. Obwohl viele Sachen schon so ewig lang her sind, dass man sich nur mehr mit Mühe richtig erinnern kann. Und vor allem, dass man sich nicht ändert. Genauso wie ich meinen Buben da aus etwas Abstand auf die Bühne gehen sehe, ist er, seit ich ihn kenne. Und seine Mitschüler, die schon mit ihm in der Volksschule waren, auch. So wie ich bzw. derjenige, an den ich mich zum Teil kaum mehr oder dann wieder viel zu genau erinnere. Bevor es mich endgültig fortspült, zupft mir der Jüngste energisch am Hosenbein: "Wann gibt s jetzt endlich was zu essen?" "Gleich, wenn die da drinnen fertig sind", sage ich und hock mich zu ihm auf den Boden. Ja, so ein Festsaal ist viel zu klein für das alles.

Schaufenster.DiePresse.com/Randerscheinung

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