Randerscheinung: Lesereise

Der Jüngste kann also lesen. Nur Großbuchstaben zwar, das Y kennt er gar nicht, das G fällt ihm nur manchmal ein, das W verwechselt er gern mit dem M. Aber sonst tadellos.

Abgesehen davon, dass das erste gelesene neben dem ersten gesprochenen Wort und den ersten Schritten zu den absoluten Elternhighlights gehören (von der Matura und dem ersten Tag vom Zivildienst einmal abgesehen), bin ich auch ein bisserl neidisch. Denn der Bub bricht mit jedem Wortanfang zu einem kleinen Abenteuer mit völlig unbekanntem Ausgang auf. Erst nachdem er Buchstabe um Buchstabe wie Perlen einer Kette aneinandergereiht hat, beginnt die Sinnsuche. Er wiederholt die Buchstabenreihe in unterschiedlichen Betonungen und versucht, Ähnlichkeiten mit ihm bekannten Wörtern zu finden. Hat er das Wort dann erkannt, muss er lachen und ist überrascht, was er da eigentlich gelesen hat. Als Erwachsener bleibt einem dieses Erlebnis weitgehend verwehrt: Erstens erkennt man die Wörter schon am Schriftbild und sieht im Augenwinkel so sogar schon, wie die Geschichte auf der gegenüberliegenden Seite unten weitergehen wird (ob er erschossen wird, ob sie sich küssen oder wer der Täter ist). Und außerdem tun wir auch sonst alles, um Überraschungen nur ja auszuschließen: Bücher werden in zig Genres und Subgenres eingeteilt, ausführliche Klappentexte verraten weitgehend den Inhalt, und um ganz auf Nummer sicher zu gehen, ziehen wir noch ein paar Rezensionen zurate, bevor wir uns endgültig auf die Lesereise begeben. Übrigens, ganz so überraschend ist es für den Leseanfänger nicht mehr, seit er eine Grundregel durchschaut hat: Auf den meisten Sachen steht einfach drauf, was sie sind. Auf der Milch "Milch", auf der Apotheke "Apotheke" und auf dem Schaufenster "Schaufenster".

Schaufenster.DiePresse.com/Randerscheinung

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