Randerscheinung: Kalenderspruch-Persiflagen

Wir verabschieden uns in der Früh bei der U-Bahn-Station. Der Mittlere dreht sich noch einmal um, lacht, sagt, „Gib dem Tag die Chance, dein bester zu werden“ und verschwindet im Morgengetümmel.

Das ist momentan einer seiner beiden liebsten Kalenderspruch-Persiflagen. Der Satz trifft umso besser, je früher, dunkler und kälter der Morgen ist. Wobei man natürlich über die Moral von der Geschichte trotzdem nachdenken könnte. Denn ich zum Beispiel gebe definitiv zwei Dritteln aller Tage nicht die Chance, meine besten zu werden, nicht einmal den Sprung in die Top tausend halte ich für möglich. Und umgekehrt lastet oft auf jenen Tagen, denen ich zutraue, besonders gut zu werden, zu viel Erwartungsdruck, um das Versprechen dann auch einlösen zu können. Deshalb ist die entspannte Zusammenkunft vor oder nach einem lang erwarteten Ereignis meist gelungener als der Anlass selbst. Deshalb lauern kostbare Momente häufiger in unscheinbaren Alltagen.

Deshalb gelingt die Arbeit manchmal dann am besten, wenn man sie wie selbstverständlich erledigt. Der zweite Spruch des Mittleren ist übrigens: „Und ist es so gelaufen, wie du dir das vorgestellt hast?“ Gern gefragt mit einem süffisanten Lächeln nach einem verlorenen Spiel, einem missglückten Versuch, einem offensichtlichen Missgeschick. Und auch damit trifft er bei mir einen Punkt. Seltener liegt es nämlich daran, wie es tatsächlich gelaufen ist, wenn ich mit einem Ergebnis unzufrieden bin (das ist meist recht vorhersehbar), sondern an meinen überzogenen Erwartungen davor. Ich werde mich also ab sofort bemühen, mehr Tagen als bisher die Chance zu geben, meine besten zu werden – aber ohne mir vorher vorzustellen, dass sie es auch tatsächlich sein werden. Ich glaube, das könnte klappen. 

Schaufenster.DiePresse.com/Randerscheinung

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