Randerscheinung: Poesiealbum

"Pizza oder Burger?" Über Multiple-Choice-Fragen im Freundebuch.

"Pizza oder Burger?", fragt mich der Jüngste am Frühstückstisch. Aber nicht, weil das bei uns schon im Morgengrauen zur Wahl stünde, sondern weil er noch schnell vor dem In-die-Schule-Fahren ein Freundebuch befüllen muss. Als ich so alt war wie er, hieß so etwas noch Poesiealbum, und man schrieb in seiner allerschönsten Schönschreibschrift Sätze hinein wie „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heitren Stunden nur“. Das Buch, über dem mein Sohn gerade sitzt, ist dagegen Minions-gebrandet und funktioniert eher wie ein Multiple-Choice-Test. Man braucht, bis auf ein paar offene Fragen, die er fast alle mit „Fußball“ beantwortet, nur Kreuzerln zu machen. „Pizza“, ruft mein Sohn und entscheidet sich danach bei „Nudeln oder Schnitzel?“ für das österreichische Nationalgericht. Ähnlich ­erratisch auch die nächste Frage: „Musik oder Fernsehen?“ „Fernsehen“, sagt er nach kurzem Zögern. „Frühaufsteher oder Morgenmuffel?“ „Ich würde gern Morgenmuffel ankreuzen, weil das so ein lustiges Wort ist. Aber stimmen tut es nicht, oder?“ „Nein, wirklich nicht.“ Ich schaue auf die Uhr, es ist gerade einmal zwanzig vor sieben. „Anführer oder Teamplayer?“ lautet die nächste Frage. „Teamplayer“, meint der Jüngste, ohne zu zögern. So sicher war er sich sonst nur mit dem Schnitzel. Bei den offenen Fragen steht „Lieblingsbuch“ („Wie soll ich mich für eines entscheiden, es gibt ja so viele?“) und schließlich „Was ich gar nicht mag“. ­­Er schreibt „Nudeln mit Tomatensoße“ hin, die gibt’s bei uns fast jeden Sonntag, weil dann nichts anderes mehr zu Hause ist. Andere im Freundebuch haben diese Frage offenbar grundsätzlicher beantwortet: „Streit“, „Lügen“ oder „Gewalt“ ist da zu lesen. Aber er hat schon recht, Tomatenspaghetti sind auch ziemlich schlimm.

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