Stille Helden am Krankenbett

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Adrienne Pötschner kümmerte sich mit 15 Jahren um ihren kranken Großvater. Junge Pfleger wie sie gibt es viele, doch man sieht sie nicht: Sie helfen im Verborgenen.

Sie hat ihrem Großvater Brei gekocht, seinen Katheter entleert und ihm zugehört, wenn er von seiner Vergangenheit erzählte. „Im letzten halben Jahr vor seinem Tod habe ich ziemlich viel übernommen, weil ich den Eindruck hatte, nur ich kann das machen. Weil es etwas anderes ist, wenn es eine fremde Person macht, die von außen kommt“, sagt Adrienne Pötschner. Als die heute 23-jährige Buchhändlerin 15 Jahre alt war, erkrankte ihr Großvater an Demenz, später wurde auch ihre Großmutter zum Pflegefall. Adrienne fuhr fast jedes Wochenende mit ihrer Mutter von Wien ins südliche Burgenland, um ihre Großeltern zu pflegen. „Es war eine schöne, aber keine leichte Zeit.“

Österreichweit gibt es 42.700 Kinder und Jugendliche, die ihre kranken Eltern, Großeltern oder Geschwister pflegen, rechnet eine Studie der Universität Wien vor. Wenn sie von der Schule nach Hause kommen, bringen sie ihren Liebsten Medikamente ans Bett, wechseln Verbände, helfen beim Haarewaschen. Schon Fünfjährige reiben ihre Eltern ein, wenn sie Schmerzen haben oder gehen mit dem Zettel zur Apotheke. Eine 17-Jährige hat sogar Infusionen abgehängt, eine Aufgabe, die sonst Krankenschwestern übernehmen, erzählt Birgit Meinhard-Schiebel. Als Präsidentin der Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger will sie auf die Situation dieser Kinder aufmerksam machen. Denn es sind stille Helden, die sich im Verborgenen um ihre kranken Familienmitglieder kümmern, aufopfernd und leise. Sie schätzt, dass die Kinder über den Tag verteilt drei bis vier Stunden bei der Pflege ihrer Angehörigen mithelfen, oft auch Verantwortung übernehmen. Darüber gesprochen wird kaum.

„Die Kinder schlittern einfach in die Situation hinein. Sie wissen gar nicht, dass sie pflegen, sie würden sich auch nicht als pflegende Angehörige bezeichnen“, sagt Anneliese Gottwald von der Pflegedienstleistung der Johanniter. „Das ist ganz selbstverständlich für sie.“ Auch Adrienne wusste nicht, dass es Pflege war, was sie für ihren Opa tat. „Es war für mich klar, dass ich mit meiner Mutter zusammen für ihn da bin. Er war ja auch für mich da, als ich klein war.“

Adriennes Großvater bekam zunächst Unterstützung von einem mobilen Pflegedienst, später eine 24-Stunden-Pflegehilfe. Adrienne war dennoch jedes Wochenende bei ihm. Weil er an einer Schluckstörung litt, dickte sie für ihn das Essen ein. Alles musste breiförmig sein, in jede Flüssigkeit musste ein Pulver, und es durften keine Brösel übrig bleiben, damit nichts in die Lunge gelangte. „Daran hat sich sonst keiner gehalten, weil es so ein Aufwand ist. Ich hätte am liebsten alles allein gemacht.“ Jeden Tag spazierte sie mit ihrem Opa drei Runden um den hufeisenförmigen alten Hof, fragte ihn über seine Kindheit aus. „Es war mir wichtig, ihn spüren zu lassen, dass er trotz seiner Erkrankung ein wichtiger Mensch für mich war. So haben wir ihn ganz lange am Leben gehalten. Ganz sicher. Er hätte sich sonst aufgegeben.“

Pflegende Kinder sprechen nicht

Wofür es im englischsprachigen Raum sogar einen Ausdruck gibt („Young Carers“), findet in Österreich hinter geschlossenen Türen statt. Die meisten Kinder und Jugendlichen, die zu Hause ihre Familienmitglieder pflegen, sprechen nicht darüber. „Ich hab's nicht an die große Glocke gehängt, weil in der Schule kein Platz dafür da war. Wenn du gerade eine Phase durchlebst, wo du siehst, wie er auseinanderbricht, dann bist du nicht in der Laune, groß von deinem Wochenende zu erzählen“, sagt Adrienne.

Beratungsangebote wie die Telefon-Hotline und das E-Mail-Service von „Superhands“, einer Plattform der Johanniter, werden kaum angenommen. „Bis sich Kinder outen, haben wir noch viel zu tun“, sagt Pflegeexpertin Gottwald, die das Projekt initiiert hat. Einen anderen Ansatz verfolgt Meinhard-Schiebel von der Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger: „Beratungsstellen helfen nicht, weil Kinder nicht zu Beratungen gehen.“ Wichtiger sei es, zuerst die Erwachsenen zu sensibilisieren. Meinhard-Schiebel führt ein Beispiel an: „Wenn eine kranke Mutter ins Krankenhaus kommt, kümmern sich alle nur um sie. Keiner fragt: ,Und du, machst du zu Hause auch etwas?‘ Wir mischen uns überall ein, in Schulen, bei Jugendarbeitern und in Krankenhäusern, um den Erwachsenen zu zeigen, dass es pflegende Kinder und Jugendliche gibt.“

Hilfe für die stillen Helfer. „Superhands“ stellt auf seiner Webseite Pflegetipps und Videoanleitungen für junge Pfleger bereit. Das österreichische Jugendrotkreuz veranstaltet „Pflegefit“-Kurse und ein Sommercamp für Kinder kranker Eltern. Meinhard-Schiebel kann sich zudem vorstellen, eine App zu entwickeln, mit der sich betroffene Jugendliche vernetzen können.

Adrienne hätte solche Unterstützungsangebote wohl angenommen, sagt sie heute. Nach dem Tod ihres Großvaters vor zwei Jahren zog sie mit ihrer Großmutter nach Wien, jetzt leben sie gemeinsam mit einer Pflegerin in einer Wohngemeinschaft. Wenn Adrienne frei hat, setzt sie sich zu ihrer Oma ans Bett, bringt ihr Bücher oder begrünt ihren Balkon. Es ist einfacher als früher, erzählt sie, als sie noch jedes Wochenende aufs Land gependelt ist. Die Wochenenden in ihrer Jugend bei ihrem kranken Großvater verbracht zu haben, bedauert sie aber nicht. Sie erinnert sich an die schönen Momente, etwa wenn ihr Großvater ihre Anwesenheit erkannte, wenn er mit ihr sprach und aus seinem Leben erzählte. „Ich möchte diese Zeit nicht missen.“

Adrienne spricht mit fester Stimme über Krankheit, Alter und Trauer – Themen, mit denen sich auch knapp 43.000 Jugendliche da draußen beschäftigen müssen. Im Unterschied zu Adrienne bleiben die meisten von ihnen aber im Dunkeln.

Pflege

42.700 Kinder und Jugendliche pflegen zu Hause ihre kranken Familienmitglieder. Das besagt eine Studie des Instituts für Pflege-wissenschaften der Universität Wien.

Angesprochen wird das Thema von den Betroffenen selten. Beratungsangebote werden kaum angenommen. Experten wollen vor allem ein Bewusstsein für die Situation der pflegenden Kinder und Jugendlichen schaffen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2014)

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