Waltraud Meier: "Mein Ich ist kein Sänger-Ich"

Waltraud Meier
Waltraud MeierNomi Baumgartl
  • Drucken

Richard Wagners "Parsifal" wird an der Wiener Staatsoper immer um Ostern aufgeführt. Als religiöses Stück will Waltraud Meier das Werk dennoch nicht verstanden wissen.

Sie sind in Wien, weil Sie gerade an der Staatsoper die Kundry in „Parsifal“ singen. Wagners Oper wird an vielen Häusern zu Ostern gespielt. Der dritte Akt spielt am Karfreitag. „Parsifal“ und das Osterfest gehören für Sie zusammen?

Waltraud Meier: Nein, nicht so! Es ist gefährlich, „Parsifal“ als christliches Stück zu sehen, es ist überhaupt kein religiöses Stück. Das ist ein großes Missverständnis. Es ist ein philosophisches. Wagner hat nach einer neuen Philosophie gesucht. Als er daran schrieb, schwappte der Buddhismus gerade nach Europa. Er war fasziniert von den buddhistischen Ideen, und es finden sich einige davon in „Parsifal“ wieder.

Welche denn?

Die Überwindung der Lust und die Befreiung des Menschen von Abhängigkeiten, das sind die eigentlichen Themen: Was macht den Menschen unglücklich? Worin liegt die Befreiung? Dieser Ansatz ist nicht unbedingt katholisch. Wenngleich er auch katholische Rituale – Wein und Blut – in das Stück reingemischt hat. Aber die werden am Schluss dann ein bisschen ad absurdum geführt. In Wahrheit wollte Wagner zu einer eigenen, neuen Weltanschauung.

Wegen des „religiösen“ Charakters war und ist es nach dem ersten Akt, der Abendmahlszene, immer noch nicht üblich zu klatschen, was nicht im Sinne von Wagner ist.

Ja, das ist auch so ein Schmarrn. Wagner hat damals bei der Generalprobe gesagt, es soll nicht geklatscht werden, weil die Pause zwischen den beiden Akten so kurz war, dass die Sänger nicht genügend Zeit gehabt hätten, sich umzuziehen. Als bei der Premiere auch nicht geklatscht wurde, war er darüber ganz unglücklich.


Wie erklären Sie sich diese Klerikalisierung Wagners?

Ich weiß es nicht, das müssen Sie die Regisseure fragen. Jede Inszenierung ist eine Einengung, und oft wird sie dem Werk gar nicht gerecht. Ich singe die Kundry nun seit 32 Jahren, und ich warte immer noch darauf, dass ein Regisseur kommt, der endlich einmal einen klugen und weisen „Parsifal“ inszeniert.


Sie haben noch keine kluge Inszenierung von „Parsifal“ erlebt?

Nein, seit Götz Friedrich nicht mehr. Es gibt immer wieder diese Details, wo ich mir denke: Das ist banal, fehlgeleitet oder doch gar nicht das Thema. Aber es gibt auch immer wieder tolle Aspekte. Doch so richtig im Gesamten hat mich noch nichts wieder überzeugt.

Sie haben immer wieder gesagt, dass der Text für Sie eine ebenso große Rolle spielt wie die Musik.

Ja, unbedingt! Alles ist im Text, und man muss ihn sinnerfüllt singen. Gerade bei Wagner ist das vorgegeben, es bietet sich an.

Das stelle ich mir gerade bei Wagner nicht leicht vor. Seine Sätze sind lang und verschachtelt, und das Verbum kommt meist erst ganz zum Schluss.

Natürlich ist das schwierig. Man muss die Spannung aufrechterhalten und das innere Wissen des Satzes im Kopf behalten. Die Auflösung kommt erst ganz zum Schluss. Und dem Zuhörer will ich die Zeit geben, zu verstehen, was ich ihm des Langen und Breiten erzählt habe. Darum bleibe ich auch immer noch eine Sekunde bei dem gesprochenen Satz und bin im Gedanken noch nicht beim nächsten.

Mittlerweile wird in fast allen großen Opernhäusern der Text während der Vorstellung in Leuchtlettern angezeigt.

Ich empfinde das eher als Nachteil. Denn die Zuschauer sind nicht mehr dort, wo die Quelle des Textes ist: beim Sänger. Es lenkt ja auch ab, man kuckt einfach hin, wenn über der Bühne die Buchstaben laufen.

Sie plädieren also eher für die Lektüre der Reclamhefte vor der Vorstellung?

(Lacht.) Davon habe ich ganz viele. Ja, ich würde mir schon erwarten, dass man sich vor dem Besuch mit dem Text auseinandersetzt.

Halten Sie Wagner für einen guten Dichter?

Ja. Klar hatte ich am Anfang Schwierigkeiten, seine Texte zu entdröseln. Heute denke ich mir manchmal: Das ist genial. Sie sind ungewöhnlich dargestellt, aber vom Informationsgehalt unfasslich, was da drinnen ist. Gerade aufgrund der verquasten Grammatik kommen neue Aspekte hoch. So gesagt, hat alles eine ganz andere Farbe.

„Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten ...“, so ein Gedanke von Richard Wagner. Fangen Sie damit etwas an?

Den Kern der Religion zu retten, das hätten wir doch heute auch notwendig. Religion nimmt heutzutage immer mehr öffentlichen Raum ein. Da kämpft eine gegen die andere. Unter dem Zeichen der Religion werden die abstrusesten Dinge gerechtfertigt. Da fragt man sich doch in der Tat: Moment mal, wo ist denn da der spirituelle Kern des Ganzen? Lasst doch endlich einmal die Äußerlichkeiten beiseite.

„Am Kern des Ganzen zu sein“ – ist das der Kunst vorbehalten?

Das weiß ich jetzt nicht. Sagen wir es einmal so, für die Kunst ist dies Pflicht.

Sie sind im katholischen Würzburg geboren. Sind Sie religiös erzogen worden?

Darüber will ich mich nicht unterhalten, es spielt für mich keine große Rolle. Was mich interessiert, ist, was die Grundsehnsucht der „religio“, der Rückbindung ist. Woher komme ich, warum bin ich hier? Das sind die Grundfragen. Aber darauf eine ideologische Antwort zu geben mit Geboten und Verboten, damit habe ich meine großen Schwierigkeiten. Das lehne ich ab.

Und haben Sie für sich schon Antworten finden können?

Ich will an den Fragen dranbleiben, kann aber genauso gut damit leben, dass ich auf sie noch keine Antwort gefunden habe. Das belastet mich nicht. Ich muss mich an nichts festhalten, weil es einen bequemen Halt gibt. Das brauche ich nicht. Das Leben ist ein Fluss, ist Bewegung. Ich will mich wach darauf einstellen und wahrnehmen, was jetzt ist.

Das Jetzt ist unsere einzige Chance?

Ja, nur hier und jetzt kann ich etwas verändern. Die Amerikaner sagen: Yesterday is history, tomorrow is mystery, today is a gift. That's why it's called the present.“ Und das stimmt. Was weiß ich von morgen?

Andererseits müssen Sie als Opernsängerin jahrelang vorausplanen.

Das ist die berufliche Schizophrenie. Klar mache ich mir auch Gedanken, was ich in vier Jahren tun werde. Ich tue das aber vor allem deshalb, weil ich meinen Weg eigengeführt planen will. Dazu gehört auch irgendwann das Aufhören.

Aufhören, damit meinen Sie Ihre Karriere als Opernsängerin?

Ja, wobei ich es gar nicht aufhören nennen will, sondern das Überführen in etwas anders. Ich möchte jedenfalls nicht das Opfer von Verhältnissen werden, es wird mich nichts überraschen. Aber dazu muss ich ja noch nichts Näheres sagen, außer, dass es in mir arbeitet.

Fürchten Sie sich davor, nicht mehr auf der Bühne zu stehen?

Diese Veränderung ist schon mit Furcht und Bangigkeit verbunden. Aber was nützt's? Wie gesagt, das einzig Stabile ist die Veränderung. Außerdem – mein Ich ist kein Sänger-Ich.

Was heißt das?

Ich definiere mich nicht über meinen Beruf. Ich würde nie von mir sagen: Ich bin eine Sängerin. Das ist das, was ich tue – und es ist nur ein geringer Anteil in mir.

Was sind Sie?

Mensch, Frau, Lebewesen.

Das „Bravo“ Ihres Publikums wird Ihnen gar nicht fehlen?

Natürlich wird es mir fehlen. Apropos, weil wir erst davon gesprochen haben: Schreit jemand ein „Bravo“ hinein kaum ist der letzte Ton verklungen, finde ich das viel störender als ein begeistertes Klatschen nach dem ersten Akt von „Parsifal“ oder während eines Liederzyklus. Aber wenn jemand in die Stille brüllt, zucken wir alle zusammen. Diese Menschen wissen gar nicht, wie sehr sie sich deplatzieren.

Stille ist das höchste Lob?

Sie kann etwas Wunderbares sein. Was haben wir Sänger nach einem „Tristan“ mit innerer Bewegtheit die Sekunden gezählt und gedacht: Immer noch nicht, immer noch nicht, immer noch nicht. Jeder empfindet das auf der Bühne gleich. Wir schauen uns an und: (flüsternd) Hören die Stille.

Steckbrief

1956 wurde Waltraud Meier in Würzburg geboren. Sie entstammt einer sehr musikalischen Familie. Nach dem Abitur studierte sie Anglistik und Romanistik, entschied sich aber letztlich für eine sängerische Laufbahn.

1983 begann ihre Weltkarriere in Bayreuth als Kundry in Richard Wagners „Parsifal“. In dieser Rolle brillierte sie über zehn Jahre bei den Bayreuther Festspielen.

1993 wechselte sie ins Sopranfach und übernahm die Rolle der Isolde in der Inszenierung von Heiner Müller.

2000 sang Meier ebenfalls in Bayreuth die Sieglinde an der Seite von Plácido Domingo in der „Walküre“ im „Millennium-Ring“, inszeniert von Jürgen Flimm und dirigiert von Giuseppe Sinopoli.

Derzeit singt sie in Wien die Kundry im „Parsifal“.

Frau Meier, darf man Sie auch fragen...


1... ob Sie sehr streng mit sich sind?
Ja, das bin ich. Allerdings habe ich Phasen großer Diszipliniertheit und dann welche, in denen ich mir denke: „So, jetzt sind wirklich alle Sicherungen draußen.“ Zwischen diesen Extremen bewege ich mich.

2... welche Musik Sie bewegt?
Brahms, Bruckner, Bach, Mahler, Schubert, das ist meine Welt. Mozart kommt erst weiter hinten. Bei einer Bruckner- oder Schubert-Sinfonie hingegen, da könnte ich heulen, auch nach dem x-ten Mal zuhören.

3... ob Sie Richard Wagner gern getroffen hätten?
Ja, ich hätte sicher Freude an ihm, wenngleich ich gar kein genaues Bild von ihm habe. Ich würde ihn einfach fragen: „Hallo, Herr Wagner, wie geht es Ihnen?“ und abwarten, wie sich das Gespräch so entwickelt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.