Martha Labil: "Pappelschnee stört Lackierer"

Martha Labil passt nicht in ein Lustspieltheater oder ins Kabarett. Sie spielt mit sich, mit dem Publikum, mit der Wirklichkeit, mit der Welt dahinter.
Martha Labil passt nicht in ein Lustspieltheater oder ins Kabarett. Sie spielt mit sich, mit dem Publikum, mit der Wirklichkeit, mit der Welt dahinter.Janos Kalmar
  • Drucken

Alfred Komarek schrieb ein Buch über faszinierende Lebensentwürfe außergewöhnlicher Menschen – so wie Martha Labil, die als Akrobatin und Clown verzaubert. Ein Auszug aus "Schräge Vögel".

Pappelschnee ist jener Schnee, der den Sommer ankündigt. Der Wind trägt die mit weißem Flaum umhüllten Samen übers Land, lässt sie zu Boden sinken, wo und wie es sich fügt. Unregulierter Samenflug? Da schlagen Schlagzeilen zu: „Pappelschnee stört Lackierer“, oder „Betriebe verärgert“. Martha Labil denkt bei Pappelschnee nicht an gestörte Produktivität. Sie träumt sich in ihre Kinderzeit, immer einmal im Jahr schwebendes Weiß, das sich in ihren Haaren verfangen hat. Schnee von gestern? Da war doch neulich diese Wiese am Kaiserwasser, das frische Grün frisch weiß gesprenkelt. Und Martha Laschkolnig, die sich auch Martha Labil nennt, wollte wieder spielen, anders spielen, erwachsener spielen, gestalten auch, aber zielstrebig, hartnäckig und zufrieden in sich selbst verloren wie damals. Es ist dann ein Pappelschneewiesenbild geworden, ein Pappelschneeköniginnenbild mit nicht ganz echtem Feenzauber und flüchtig ewiglicher Bekrönung, eine leichthin an den Traum verlorene Begehrlichkeit, der Wirklichkeit gestohlen, der Wirklichkeit geschenkt.

So ist sie eben, die Martha Labil. Sie macht aus allem was, und alles macht etwas aus ihr. So gesehen treibt sie's mit der Kunst, mit dem Ergebnis von Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition. Andererseits gehört sie zum fahrenden Volk, zu den Gauklern, den Clowns, den Artisten, aber nicht wirklich, weil ihr Zugehörigkeiten aller Art bald einmal zu eng werden, wenn's verdächtig nach Gruppenzwang riecht. Geht es aber um Gemeinschaft, ist sie gerne dabei. Sie ist offen für ihr Publikum, vorausgesetzt, ihr Publikum ist offen für sie. Und Martha Labil macht Fenster und Türen zu, wenn der Wind der Banalität ums Haus weht. Eigentlich ist es ganz einfach: Sie stellt Kulissen in die Welt, nimmt die Welt als Kulisse, spielt auf allen ihren Bühnen die Hauptrolle nebst sämtlichen Nebenrollen, und im Souffleurkasten sitzt sie auch. Dann geht sie nach Hause und denkt darüber nach, was ihr noch alles zuzutrauen wäre. Alles? Irgendwie zu wenig...

Mit zu wenig kennt sie sich aus, hat schon als Kind damit gelebt, als eines von sieben Kindern. Als Mangel hat sie das nie empfunden, weil ihre Mutter die Kunst beherrschte, aus nichts viel zu machen. So war das eben, und es war gut so. Es gehörte zu ihrem Leben, dass sie unter vielen Geschwistern mitunter auch so etwas wie Einsamkeit verspürte, sich aber stets in bester Gesellschaft geborgen wusste, wenn sie allein auf der Donaulände spielte. Und die vielen Geschichten, die ihre älteste Schwester zu jedem Thema zu erzählen wusste, nahm sie vergnügt und dankbar auf, erzählte sie für sich neu, mit eigenen Farben und Konturen, suchte sich Träume aus, die zu ihr passten, die sie weiterspinnen konnte. Eine unbändige Neugier auf alles und ein eigenständiger, eigenwilliger Umgang mit Erfahrenem und Erlebtem ergaben zusammen alles andere als ein braves, angepasstes Kind. Dermaßen ungebärdiger Lerneifer mochte sich nicht so recht in eine Gruppe fügen, nicht einmal in der Waldorfschule.

Marthas Lernerfolg wurzelte in Böden, die nicht dafür vorgesehen waren, wucherte in jede erdenkliche Richtung, nur nicht in die pädagogisch gewollte, und störte das ordentliche Wachstum ringsum. Martha war eine anstrengende Schülerin und dabei blieb es, als sie mit neun nach Kärnten zog, wo ihre Mutter in einer Werk- und Wohnstätte für behinderte Erwachsene arbeitete. Dieses neue Leben passte durchaus in Marthas Welt, in der schon immer alles willkommen war und Raum fand. Weit weniger konnten ihr manche Mitarbeiter gefallen, die offenbar Betreuung mit Aufsicht verwechselten.


Und die Waldorfschule in Klagenfurt... Wieder einmal ließ Martha nicht mit sich spielen. Um endlich in der Gruppe anzukommen, aufzufallen, wahrgenommen zu werden, spielte sie nach ihren eigenen Vorstellungen – und sie wollte auf ihre kleine Bühne, unüberhörbar und unübersehbar, auch angesichts verzweifelter Lehrer. Aber sie brachte ihr schulisches Leben so halbwegs gut zu Ende.

Ja, und wohin jetzt? Etwas Künstlerisches sollte es schon sein. Bühnenbildnerin vielleicht? Oder doch erst das Sammeln von Theatererfahrung? Das Schauspiel, eigentlich alles, auf dem das Etikett „brotlose Kunst“ klebte..., irgendwie war der Gedanke daran befreiend. Also Hospitanz beim Linzer Landestheater. Doch die distanzlose Beobachtung des Bühnengeschehens endete mit einer nüchternen Erkenntnis: Der Menschheit Würde war diesen Mimen nicht in die Hand gegeben. Von Zeilen umzingelt, von Regisseuren regiert, ins Ensemble gezwängt, kauten sie lustlos an theatralischer Fertignahrung. Nein danke! Martha pfiff ungeniert auf das Getue, spielte sich auch hinter den Kulissen frech nach vorne und wurde des Platzes verwiesen.

Also ganz etwas anderes, Landwirtschaft vielleicht oder, noch besser, kreatives Handwerk, um in Ruhe über ein Studium nachdenken zu können. Das Praktikum bei einem Klavierbauer kam da gerade recht, nur schade, dass des Meisters Mittel nicht für eine Lehre reichten. Dann eben gleich ein Studium: Malerei an der Akademie für Bildende Kunst, abgeschlossen mit Diplomarbeit. Die Tage waren also künstlerisch wertvoll genutzt, die Nächte hingegen blieben frei. Und wieder einmal spielte Martha für sich allein, verwandelte Schuhschachteln in Bühnen, Träume in Konzepte, vergriff sich an Unfassbarem.


Als sie dann mit dem Studium fertig war, ertappte sie sich wenig überrascht bei der Erkenntnis, dass sie wohl nie mit irgendetwas fertig sein würde, fertig sein wollte. Na also! Damit war endlich ein Lebensweg gefunden, der sich durch profunde Unvernunft ebenso auszeichnete wie durch unverdrossenes Grundvertrauen. Die Welt mochte sich noch so abweisend geben, letztlich blieb ihr nichts anderes übrig, als gefälligst offen zu stehen. Die Bühnenbretter mochten noch so bedeutend tun, letztlich waren sie da, um ihr zu Füßen zu liegen, und das Publikum, verwöhnt, hochnäsig und satt, wartete eigentlich nur darauf, endlich wieder einmal verführt zu werden, aber so richtig. Martha Laschkolnig zog also aus, um all dies Wirklichkeit werden zu lassen – nicht, um irgendwann ans ultimative Ziel zu kommen, sondern für viele Anfänge, für verpatzte, geglückte und solche, von denen sie sich noch mehr versprechen durfte.

Stete Veränderung, unbekümmert oder ungestüm den eigenen Vorstellungen folgend, entsprach durchaus ihren Vorstellungen von Beständigkeit. Darum ging es eigentlich immer und in allem: loslassen und sich halten können. Gelernt hat sie dabei viel, Menschen kennengelernt, manche auch lieben gelernt, und jetzt endlich weiß sie, wo sie zuhause ist. Sie hat zwar eine kleine Wohnung in Wien und ein großes, sehr großes Atelier, die Regale bis unters Dach angefüllt mit Requisiten, Musikinstrumenten, Kostümen, Versatzstücken und Material für Ideen von morgen. Sie ist aber nur gerne hier, weil sie überall anders auch gerne ist. Fremd bleibt sie da und dort mehr oder weniger, vertraut mit der Fremde ist sie im Handumdrehen. Ihre unzähligen Koffer passen dazu, ambulante Fernwehheimaten, Wertlosigkeitsbehälter, bei Bedarf zu Schatz- und Wunderkammern ernannt. Nach und nach gewinnt auch ihr berufliches Selbstverständnis an Profil, wenigstens in der Abgrenzung. Der Clown in ihr ist kein Zirkusclown, Pausenclown schon gar nicht. Die Komödiantin passt nicht ins Lustspieltheater, auch nicht ins Kabarett, und die Artistin fände es langweilig, nur Kunststücke herzuzeigen. Anders gesagt: Martha Labil spielt, spielt mit sich, spielt mit dem Publikum, mit der Wirklichkeit, mit der Welt dahinter. Und kein Spiel ist wie das andere.

Damit sind wir wieder beim Koffer. Scheinbar Banales passt hinein, Erschreckendes, Verblüffendes, Groteskes, Komisches. Und Martha Labil passt hinein. „Die Martha im Koffer“ ist ein Spiel mit ungewissen Anfängen und Enden, einer Figur gewidmet, die immer neue Geschichten hervorbringt, an denen sie seit gut vier Jahren arbeitet. Und sie wird weiter daran arbeiten, na klar. Angefangen hat es wie immer: ohne Konstrukt, aber mit einer Vorstellung, die Substanz gibt, aber alles offen lässt. Nur keine Hast, kein Drängen, nur beharrliches Suchen, Tasten nach jenem Punkt, der ein Ausgangspunkt sein kann. Es finden sich Wege, es findet sich der beste Weg, gesäumt von immer wieder neuen Bildern.

Hauptsache, alles kommt ins Gleichgewicht, bleibt in der Schwebe. Dann darf schon einmal die Probe vor dem Publikum kommen, die Wechselwirkung zwischen der Geschichte, die sich auf der Bühne ereignet, und jener Geschichte, die in den Köpfen ankommt. Die Martha im Koffer ist vor allem, wenn auch nicht nur, für Kinder da, und Kinder haben die viel geräumigeren Köpfe, noch nicht verstellt und vollgeräumt mit Schrott und Plunder.

Aber es waren dann doch auch Erwachsene unter den Zuschauern, verdächtig versierte Erwachsene: erst einmal österreichische Fachleute, die nach Preiswürdigem Ausschau hielten, gefolgt von ihren internationalen Kolleginnen und Kollegen Martina van Boxen (Junges Schauspielhaus Bochum), Sandra Hoffmann (Elbphilharmonie Hamburg) und Kay Wuschek (Theater an der Parkaue). Dieses kreative Triumvirat ballte sich zur Jury und beschloss, den Stella12 in der Kategorie „Herausragende Produktion für Kinder“ an „Die Martha im Koffer“ von Martha Laschkolnig zu vergeben. Das war schon was! Und dann noch die Begründung...


„Ausgezeichnet wird eine Produktion, die durch ihren Eigensinn besticht, nicht durch Perfektion. Ausgezeichnet wird eine Inszenierung, die durch ihre Wachheit gegenüber dem Publikum und einen zugleich ernsthaften wie heiteren spielerischen Umgang mit ihm überzeugt. Die internationale Jury sieht in der vielfältigen Kreativität dieser Arbeit ein Potential, welches neugierig macht auf kommende Produktionen. Hier bleibt eine Künstlerin sich treu und versteht ein Publikum jeden Alters zu überraschen, zu irritieren und auf ganz besondere Weise zu unterhalten. Der Stella12 in der Kategorie ,Herausragende Produktion für Kinder‘ geht an ,Die Martha im Koffer‘ von Martha Laschkolnig.“ Da lehnt sie sich also satt und zufrieden zurück, die Martha Laschkolnig, die Martha Labil, gerührt und glücklich, weil sie so durch und durch verstanden wurde, und sie träumt erstmals von einer beschaulichen Zukunft oder so. Doch die kommt nicht. Natürlich geht es weiter, und zwar drunter und drüber, konsequent der eigenen Nase nach: „Die Martha im Koffer“ will sie noch lange immer wieder neu und anders erzählen, einfache Theaterstücke durchgestalten, auch wenn gerade das sehr kompliziert sein kann, an die Grenzen gehen, auch einmal schauen, ob's nicht über die Grenze geht, neugierig sein, etwas wagen, etwas mehr wagen, künstlerisch bleiben. Immerhin braucht sie jetzt einmal fürs erste keinen Brotberuf mehr nebenbei. Damit bleibt der Arbeitsrhythmus ungestört, der Terminkalender frei für Spontanes. Und wie ist es, wenn einmal lange, allzu lange, kein Anruf kommt? Ob es zwischendurch nicht auch gefährlich schiefgehen kann? Und wie ist es mit der Angst?

„Angst kann nie schaden“, sagt Martha Labil und fügt unfromm lächelnd hinzu: „Aber ich klettere immer nahe am Stamm.“

Buchtipp

13 Menschen stellt Alfred Komarek in seinem neuen Buch vor – mit Biografien, die nicht in gängige Normen passen, u.a. Puppenspielerin Julia Reichert, Schuherzeuger Heini Staudinger oder Soziologe Roland Girtler. Als Bonus liefert Komarek einen Text über sich selbst.

Schräge Vögel.Faszinierende Lebensentwürfe. Von Alfred Komarek (Text) und János Kalmár (Fotos). Kremayr & Scheriau 2014; 22 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

'Polt.': Erwin Steinhauer sitzt wieder fest im Sattel
Salon

Alfred Komarek: "Es muss ein gelungenes Leben sein"

Schriftsteller Alfred Komarek über sein neues Buch, sein Herangehen an die darin porträtierten Menschen und die Voraussetzungen, wie man zu einem schrägen Vogel wird.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.