Dan Diner: "Zum Glück ist die Geschichte offen"

Dan Diner
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Der Historiker Dan Diner forscht derzeit über den Zweiten Weltkrieg aus globalgeschichtlicher Perspektive. Was das genau bedeutet, erzählt er der "Presse am Sonntag".

Einem Trend in der Geschichtswissenschaft folgend forschen Sie gerade über den Zweiten Weltkrieg aus globalgeschichtlicher Perspektive. Was bedeutet das für die Periodisierung der Ereignisse?

Dan Diner: Aus ostasiatischer Perspektive beginnt der Krieg mit dem japanischen Zugriff auf die Mandschurei im September 1931 und weniger mit dem deutschen Überfall auf Polen. Die Mandschurei steht nicht gerade im Zentrum unseres historischen Interesses, aber hier treffen Japan, Russland und China zusammen. Daraus lassen sich Entwicklungen ablesen, die in ihrer tiefen Bedeutung gern übersehen werden, so der sowjetisch-japanische Krieg 1939, den Russland im September für sich entscheiden konnte: Dieser Zusammenstoß – ein regelrechter Krieg mit modernstem Material, Panzern, Flugzeugen etc. – veranlasste Japan nicht zuletzt dazu, seine kontinentale Expansion in Asien weiter nach Süden zu lenken und nicht nach Nordosten. Im Frühjahr 1941 schlossen beide Staaten einen Neutralitätspakt, der zu einer Zweiteilung der Kriegsschauplätze im Zweiten Weltkrieg führte – einem europäisch-kontinentalen und einem asiatisch-pazifischen.

Sie sagen, dass die Palästina-Frage eigentlich in den indischen, den asiatisch-imperialen Zusammenhang des Krieges gehört und weniger in den europäisch-kontinentalen.

Palästina und damit der Jischuw, die jüdische Ansiedlung dort, gehörte zum imperialen britischen Verteidigungsring im Nahen und Mittleren Osten. Dort wurden die Verkehrswege nach Indien sowie die kriegsentscheidende Ölversorgung verteidigt. Der Erfolg der Briten bei der Schlacht von el-Alamein gegen die Deutschen und Italiener hat die Juden Palästinas davor bewahrt, das Schicksal der Juden im Warschauer Ghetto zu erleiden. Anders erging es den Juden von Rhodos, sie wurden im Sommer 1944 von den Deutschen nach Auschwitz deportiert. Rhodos, Griechenland und der Balkan waren Teil des europäisch-kontinentalen Kriegsschauplatzes, die Juden Palästinas Teil des imperialen-asiatischen. Zwischen Rhodos und Haifa liegen nur etwas mehr als 700 Kilometer.

Inwieweit wird die globalgeschichtliche Sicht auf den Zweiten Weltkrieg unseren Blick verschärfen?

Es geht nicht nur um unseren Blick, es ist eine Einladung an Bevölkerungen anderer Kulturen, vor allem in den postkolonialen Ländern, am immer wichtiger werdenden Diskurs über den Zweiten Weltkrieg teilzuhaben – vor allem, was den Holocaust angeht. Dann wird ersichtlich, wie unterschiedlich, unter Umständen gar gegensätzlich die Perspektiven gestaltet sind. Was macht man etwa mit einem Phänomen wie dem Helden der indischen Unabhängigkeitsbewegung, Subhash Chandra Bose? Er ist im Frühjahr 1941 aus Indien kommend über Moskau nach Berlin gereist, um dort freudig empfangen zu werden. Auf Bildern erkennen wir, wie er mit Heinrich Himmler tafelt. Sein Handeln war antikolonial und gegen die Briten gerichtet, daher suchte er das Bündnis mit den Achsenmächten.


Selbst Mahatma Gandhi hatte eine eigene Perspektive, was den Holocaust betrifft.

Nicht gerade den Holocaust, aber doch die Judenverfolgung in den späten 1930er-Jahren. Nach der sogenannten Reichskristallnacht hat er den Juden im Deutschen Reich geraten, gewaltlosen Widerstand zu leisten. Dabei projizierte er seine indische Erfahrung mit den Briten auf die Verhältnisse in Deutschland, was in der Sache natürlich ein Missverständnis war. In der Palästina-Frage hielt es Gandhi mit der ortsansässigen arabischen Bevölkerung, nicht mit den ins Land kommenden Juden. Zudem machte er ihnen zum Vorwurf, sich von den Briten schützen zu lassen.

Lässt sich ein vom europäischen oder westlichen Geschichtsbewusstsein bestimmter Blick einfach so globalisieren? Ist Geschichte nicht vielmehr eine bestimmte Interpretation von Lebenswelten, die sich auf eine bestimmte Erfahrung bezieht?

Die Geschichte ist – oder genauer: war – ein Produkt der Aufklärung. Diese Vorstellung war von Anfang an mit einem bestimmten Erwartungshorizont verbunden. Ihr war das eigen, was man als Telos bezeichnet. Die große Zeit dieser Art des Denkens war das 19. Jahrhundert, getragen vom Fortschrittsoptimismus und dem Aufkommen entsprechender Ideologien. All das wurde von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts dementiert. Und dennoch benötigen wir historisches Denken, um unserer Gegenwart und damit unserem Handeln so etwas wie Sinn zu verleihen.

Für muslimische Länder wird oft auch eine Aufklärung wie in Europa gefordert.

Das ist eine schwierige Frage. Ich würde weniger von der Aufklärung und vom Aufklärungsdenken ausgehen als von unterschiedlichen Traditionen von Säkularisierung der Lebenswelten und Profanierung von Text und Textkultur. In unseren Breiten erfolgte dies etwa im Rahmen der Bibelwissenschaften, als begonnen wurde, den heiligen Text auch historisch-philologisch zu interpretieren. Vergleicht man die arabischen Kernländer des Islam mit Kulturen wie in Indien oder China, so wird doch ein erheblicher Unterschied in den Modernisierungserfolgen sichtbar. Man muss aber nicht gleich der Anschauung folgen, dass ohne westliche Philosophie die Generierung westlicher Technologie wohl nicht möglich wäre, um hier einen Zusammenhang zu erkennen.

Worauf führen Sie das zurück?

Das ist ein weites Feld. Es sollte aber darauf verwiesen werden, dass unsere Säkularisierung für andere Kulturen ein Problem bedeuten mag, schließlich handelt es sich um eine Säkularisierung der Christenheit. Unsere Begriffswelt ist irgendwie christlich imprägniert. Gleichzeitig weist diese Säkularisierung eine derart starke Tendenz zu einer Universalisierung aus, dass ihr ein starker anthropologischer Charakter zukommt, ihre Gültigkeit also weit über ihre Entstehungskultur hinausreicht. Sie ist also im Wortsinne weltoffen. Das mag etwa für bestimmte Tendenzen im Islam, die es auf die wörtliche Auslegung der Glaubenslehre ankommen lassen, ein Problem bedeuten.

Der Islamische Staat (IS) propagiert eine Art von Rückkehr zum Ideal der frühislamischen Zeit. Ist das eine Art von Gegenbewegung zur Universalisierung der westlichen Säkularisierung?

Der IS folgt einer Vorstellung der Rückkehr zu den Ursprüngen oder dem, was sie sich darunter vorstellt, bevor der Islam „verdorben“ oder „korrumpiert“ worden ist. So haben sich schon die Wahhabiten im 18. Jahrhundert osmanischen Modernisierungsvorhaben widersetzt. Genau genommen unterscheidet sich die im IS etablierte Ordnung, sich streng an eine wortwörtliche Auslegung der Scharia zu halten, nicht wesentlich von jener Saudiarabiens – mit dem Unterschied, dass Letztere inzwischen als konservativ wahrgenommen wird, während Erstere, die des IS, mit dem Pathos des Revolutionären daherkommt und eine ebensolche Dynamik entfaltet. Ob das ein Strohfeuer ist oder doch tiefer reicht, wird sich noch erweisen. Zum Glück ist die Geschichte offen – jedenfalls heißt es so.

Kann die Abkehr vom IS und seiner Ideologie nur dann erfolgen, wenn – neben militärischen Schlägen – ein innerislamischer Diskurs stattfindet?

Der innerislamische Diskurs ist etwas sehr langfristiges. Der Islamische Staat ist unmittelbar, man kann ihn schwer bekämpfen, indem man Kurse zu einer aufgeklärten Koran-Interpretation einrichtet.

Die Mehrheit der Muslime schafft es nicht, ein globales Zeichen gegen IS zu setzen.

Das kann man von ihnen auch so nicht verlangen, weil die Muslime, soweit man überhaupt von „den Muslimen“ sprechen kann, das Gefühl haben, in der Defensive zu sein und überall vom Westen behelligt zu werden. Der Rückgriff auf eine wie immer verstandene, archaisch anmutende Tradition ist eine Reaktion darauf.

Zurück zur Geschichte: Sie wiederholt sich nicht, aber es sind ständig Rückgriffe auf die Vergangenheit zu erkennen. Der türkische Präsident Erdoğan spricht von einer „Neuen Türkei“, der russische Präsident Putin von einem „Neuen Russland“...

Das irritiert in der Tat. Was Russland angeht, so hat man den Eindruck, als würden Geografie und Gedächtnis ein merkwürdiges Bündnis eingehen. Der Geografie ist ein starkes Wiederholungsmoment eigen: Sie lässt sich nicht verändern. Als Putin sich die Krim angeeignet hat, fühlten sich viele an das 19. Jahrhundert und an den Krim-Krieg erinnert. Was das Gedächtnis angeht, scheinen Kategorien und Begriffe der Geopolitik wiederbelebt zu werden, die den Eindruck bestärken, das 19. Jahrhundert feiere Wiederauferstehung.


1. . . was genau „der Westen“ eigentlich ist?
Unterschiedliches. Vor allem aber die vormals lateinische Welt, verbunden mit der Aufklärung, wie sie in die Französische Revolution einmündete – oder zuvor die amerikanische Revolution nach sich zog. Historiker sprachen früher von der „atlantischen Revolution“. Inzwischen haben sich diese Revolution und ihre Werte, die mit Demokratie und Liberalismus in Verbindung gebracht werden, auf dem europäischen Kontinent nach Osten hin erweitert. Der Ukraine-Konflikt ist ein Teil davon.2. . . was genau „die Geschichte“ eigentlich ist?
Der Geschichtsbegriff, wie wir ihn verstehen, ist ein Bewegungsbegriff mit einem Ziel. Sie ist ein Produkt der Aufklärung und unterscheidet sich von anderen Formen der Beschreibung vergangener Wirklichkeit, denken Sie etwa an Chroniken. Mit dem Geschichtsbegriff fragen wir uns, ob das etwa für unseren Kulturzusammenhang Geltung hat oder auch wieder im Verfall begriffen ist.

Steckbrief

1946
Dan Diner wird in eine osteuropäisch-jüdische Familie in München geboren. Er studiert Rechtswissenschaften und Geschichte in Frankfurt. Es folgen Gastprofessuren in Deutschland, Dänemark und Israel, unter anderem für Moderne Arabische Geschichte und außereuropäische Geschichte.

1999 wird Diner Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig. Ab 2001 wird er zudem Professor für Neuere Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem. Zu seinen Forschungsgebieten zählen neben der jüdischen auch die politische Geschichte sowie die Geschichte des Vorderen Orients.

In Wien hat Diner auf Betreiben des Simon-Wiesenthal-Instituts einen Vortrag zu seiner Forschung über den Zweiten Weltkrieg gehalten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2015)

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