Milena Michiko Flašar: Erinnerungen an eine Kindheit in St.Pölten

Lukas Beck
  • Drucken

Plätze und Straßen prägen unsere Biografien, ob man in einem Dorf oder in einer Großstadt geboren wurde. Für ein Buchprojekt haben vierzig Künstler über ihre Heimatstadt geschrieben und wie sie von ihr geprägt wurden. Unter ihnen auch die Schriftstellerin Milena Michiko Flašar, die in St.Pölten groß wurde. Ein Vorabdruck.

Wenn ich an St. Pölten denke, dann denke ich an meine Kindheit. Und wenn ich an meine Kindheit denke, dann denke ich an die vielen kleinen Dinge, die – gleich Blumen am Wegesrand – einen zarten Geruch verströmen. Irgendwann wird er sich verflüchtigt haben, bloß um wiederzukehren an einem anderen Ort. Ob in St.Pölten oder ganz woanders: Jede Kindheit, meine ich, lebt vom Zauber der kleinen Dinge, von ihrem zarten, sich verflüchtigenden Geruch. Und so schwer es auch ist, an ihm festzuhalten, man versucht es doch immer wieder. Das ganze Leben ist der Versuch, etwas von diesem allerersten Anfang zurückzubehalten, etwas von diesem kleinen, kleinen Schrei, mit dem man auf die Welt gekommen ist und der durch sämtliche Äußerungen hindurch nachhallt, selbst durch das allerletzte Röcheln, mit dem man seinen Abschied macht.

Ob ich wohl etwas ahne von dieser Flüchtigkeit, als ich auf Zehenspitzen stehend einen Blick auf die Stadt hinauswerfe? Vom siebten Stock aus wirkt sie kleiner noch als ich. Da ist die Glanzstoff. Dort das Krankenhaus. Davor die Lourdes-Kirche mit ihrem schrägen Dach. All das hat Platz in meiner Hand, die einmal hierhin, dann wieder dorthin zeigt. Die ganze Stadt hat Platz in der Kuppe meines Zeigefingers.

Groß ist hingegen das Haus, in dem ich aufwachse. Ein wahrer Wolkenkratzer. Und wenn man mich nach der Adresse fragt, sage ich in nur einem Atemzug, wie ein auswendig gelerntes Gedicht: „Dr.-Wilhelm-Steingötter-Straße 20/7/40.“ Solche Dinge vergisst man nicht. Sie finden Unterschlupf im Gedächtnis, nehmen einen Großteil seines Raumes ein. Bis heute ist das die einzige Adresse, die ich mir aufs Innigste gemerkt habe. Merkwürdig. Und bis heute habe ich keine Ahnung, wer Wilhelm Steingötter war. Allein der Klang seines Namens tönt mir vertraut. In ihm bin ich zu Hause. Er ist eines jener Geheimnisse, die ich mir bewahrt habe, und ich wünsche keinerlei Aufdeckung darüber. Und vielleicht ist es gerade das, was Zuhause ausmacht: all die Geheimnisse, die unaufgedeckt bleiben. Schattige Nischen, in die man sich zurückzieht wie in vor Langem geträumte Träume. Etwas kommt einem bekannt vor. Etwas erinnert einen an etwas anderes. Und dieses andere wiederum führt zum Nächsten und so weiter, bis es alles irgendwann zusammenkommt und ununterscheidbar ein und dasselbe ist.


Schön in seiner Hässlichkeit. Das Haus, in dem ich aufwachse, ist ein Gemeindebau aus den späten Siebzigerjahren. Schön in seiner Hässlichkeit, aber darüber denke ich als Kind kaum nach. So wenig, wie ich darüber nachdenke, dass sich die Wohnung, in der ich sichtbar größer werde (davon erzählen die Bleistiftstriche am Türrahmen zur Küche), in ebendiesem Haus in St.Pölten befindet. Die Stadt hat noch keine Bedeutung für mich. Das Einzige, was ich von ihr weiß, ist im Sommer der Geschmack von Eis und im Winter der von Maroni. Die Hand meiner Mutter, an der ich durch die Kremser Gasse laufe. Ihre warme und weiche Hand. Das Gefühl, mehr eine Sicherheit, dass ich an ihrer Hand nicht verloren gehen kann. Nie wieder werde ich so an einer Hand laufen, so bar jeder Furcht und jeden Zweifels. Derart anheimgegeben bin ich dieser Hand, dass meine eigene mit ihr zu verschmelzen scheint. Und das ist das schärfste Bild, das mir aus Kindheitstagen geblieben ist: Das Bild von Händen, die sich ineinanderlegen. Ein Bild von Heimweh und von Nachhausekommen.

Nein, ich ahne nichts, nicht einmal vage, von irgendwelcher Flüchtigkeit. Die Welt ist gut, denn sie ist von Dauer. Erst sehr viel später wird mir bewusst, dass sie der denkbar schlechteste Ort ist für jemanden wie mich, die an solchen Kleinigkeiten hängt wie dem roten Lichtschalter im Vorzimmer. Im Lauf der Jahre ist die rote Farbe abgeblättert und selbst daran hänge ich noch, an dem letzten Rest Rot, der geblieben ist. An dem grauen Teppichboden, der einmal rosa war. An der Tapete mit Blümchenmuster. Den Hausschuhen meines Vaters (wir nennen sie Zwergenschuhe, obwohl sie riesig sind). Den zerlesenen Mickey-Mouse-Heften. Und ich stelle mir gerne vor, dass unsere Wohnung noch immer dieselbe ist, auch wenn wir schon lange nicht mehr darin wohnen, sie uns noch immer auf magische Art und Weise beherbergt, auch wenn an der Tür längst ein anderer Name steht. Sie ist erfüllt von unseren Stimmen. Dem Klappern von Geschirr. Aus dem Wohnzimmer kommt ein Lied, jemand summt dazu. Mein Bruder bringt mich zum Weinen, indem er mich damit aufzieht, dass ich in Wahrheit ein Findelkind sei, und als er mir das Bild meines angeblich echten Vaters zeigt (es ist Maximilian I., ein Bild aus einem seiner Schulbücher), meine ich tatsächlich eine Ähnlichkeit feststellen zu können. Ob man mich nicht noch immer darüber weinen hören kann, nachts, wenn es dunkel wird, ob nicht das Kopfkissen, jenes eine, noch immer nass ist von meinen Tränen?

Nach und nach vergrößert sich der Raum um mich herum. Zuerst ist es die Wohnung, die sich wie eine zweite Haut um mich spannt, danach sind es die Wege, die ich von dort aus gehe, die mehr und mehr Teil meines inneren Blutkreislaufs werden. Der Weg zum Kindergarten etwa, die Austinstraße hinunter, vorbei an den scharf bellenden Hunden der Muschiks und dem noch schärfer bellenden Hund im Rosenhof. Oder der sonntägliche Weg zur Kirche, wo ich nichts verstehe. Den Heiligen Geist stelle ich mir als ein Gespenst vor, mit einem weißen Leintuch über dem Kopf, und ich wage nicht nachzufragen, was „gebenedeit“ bedeutet, und schon gar nicht „die Frucht deines Leibes“, wobei es wahrscheinlich gerade mein Unverständnis ist, das mich das Hinknien und Wiederaufstehen als ein lustiges Spiel begreifen lässt. Ich bin verliebt in das Bild von Jesus, der das eine Kind zu sich ruft, das abseits steht. Der Weg zum Bäcker. Der Weg zum ADEG. Der Weg zur Musikschule, wohin ich meine Mutter zu ihren Klavierstunden begleite. Der Weg zur Traisen. Dort begraben wir die Schnecken, die wir in Einmachgläsern gehalten haben und die schon nach kürzester Zeit darin gestorben sind, obwohl wir ihnen täglich frischen Salat gefüttert haben. Dieses Mal ist es mein Bruder, der weint.


Gemeindebau und Wildnis. Der Weg zum Hammerpark. Der Weg zur Sparkasse. Unzählig all diese Wege. Kastanien und Gänseblümchen. Und irgendwann kommt der Tag, an dem ich mich allein aufmache, nicht länger an der Hand meiner Mutter, sondern mit einer Handvoll Kinder aus dem Gemeindebau, und wir ziehen aus, um die „Wildnis“ zu erobern, womit wir das Brachland meinen, das schon längst keines mehr ist. An das Gestrüpp, damals kniehoch, erinnert höchstens ein einsamer Grashalm auf einem der Parkplätze vor den hinzugekommenen Häusern aus den Achtzigerjahren. Glatter Asphalt, dort, wo wir uns mit Pfeil und Bogen durch das Unterholz schlugen, hier und da aufgesprungen wie unverheilte Narben.

Ganze Tage lang unter freiem Himmel. Einem Tier gleich, das seine Farben wechselt, je nach Einfall des Sonnenlichts. In dieser Wildnis bin ich groß geworden, ich könnte sagen: Diese Wildnis wuchert noch heute in mir. Sie ist das Gefühl von grobkörnigem Sand zwischen den Zähnen. Das Gefühl von Steinen, die ich gegeneinanderreibe, um (erfolglos) Feuer zu machen. Das Gefühl von Erde. Von Himmel. Und von meinem gedanken- und ahnungslosen Körper, der sich dazwischen bewegt. Das Gefühl von Hunger und Durst. Das Gefühl von Ameisen, die ich zertrete. Das Gefühl von Schuld, schmerzhaft wachsend in dem Maße, wie ich selber wachse. Das Gefühl von Wörtern wie „Ausreißen“ mit einem Butterbrot in der Tasche. Das Gefühl von Lachen, so lang, bis es wehtut. Das Gefühl von Schiefern unter der Haut. Dies alles gehört nach St.Pölten, ist dort für immer für mich verwahrt, in jener Wohnung in jenem Haus an der Steingötterstraße, auch wenn (oder gerade weil) ich wohl niemals dorthin zurückkehren werde.

Bloß im Traum, allzu selten, finde ich mich am Fenster im Kinderzimmer stehen und schaue hinaus auf die drei Pappeln, hinter denen ich das Meer vermute. Eines dieser Geheimnisse, die ich nicht aufdecken mag. Jenseits der Viehofner Straße brandet das Meer. Schäumende Wellen rollen unablässig an Land.

Biografie

Milena Michiko Flašar wurde 1980 in St.Pölten geboren. Die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters hat in Wien und Berlin Komparatistik studiert. Für ihr Buch „Ich nannte ihn Krawatte“ erhielt sie im November 2012 den österreichischen Literaturpreis Alpha. Heute lebt sie als Schriftstellerin in Wien.

Publikationen: „Ich bin“ (2008), „Okasan – meine unbekannte Mutter“ (2010), „Ich nannte ihn Krawatte“ (2012).

Info: www.milenaflasar.com

Das Buch

"Stadtmenschen" Wie Plätze und Straßen unsere Biografien prägen. Vierzig Porträts, fotografiert von Lukas Beck, herausgegeben von Saskia Schwaiger. Picus Verlag 2015; 29,99 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.