McMahan: "Auch der gute Nachbar hatte Sklaven"

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Symbolbild.(c) REUTERS
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Moralphilosoph Jeff McMahan erzählt, warum er Kindestötung in gewissen Fällen zulässig und die kontrollierte Ausrottung aller fleischfressenden Spezien erwägenswert findet.

In Ihrem Buch „The Ethics of Killing“ geht es um das Töten in ethischen Grenzbereichen. Welche erscheinen Ihnen besonders wichtig?

Jeff McMahan: Ich habe mich für eine Reihe von Themen interessiert, die Frage der Tötung von Föten und Neugeborenen, von Komapatienten und Demenzkranken, von schwerst behinderten Menschen, die kognitiv nie einen höheren Status haben werden als Tiere, von Tieren . . . Mich interessiert der moralische Status dieser Individuen, und mich interessiert, ob die Frage, welcher Spezies sie angehören, einen Unterschied macht. Wenn die Spezies nämlich keine Rolle spielt, haben wir ernsthafte Probleme. Warum halten wir es für richtig, Tiere in einer Art und Weise zu behandeln, wie wir es mit Menschen niemals tun würden, auch wenn sie sich nicht sehr viel von ihnen unterscheidet – zumindest nicht in den Bereichen, die für uns das Menschsein ausmachen?


Kann Moralphilosophie auf diese Probleme klare Antworten liefern? Wie viel kann sie leisten, wo stößt sie an Grenzen?

Was sie herstellen kann, ist Konsistenz. Die meisten Menschen haben sehr inkonsistente Überzeugungen, wenn es etwa um Föten, Tiere oder Menschen mit schweren Hirndefekten geht, und sie sind sich dessen nicht einmal bewusst. Vermutlich findet die Mehrheit in den westlichen Ländern, dass gewisse Abtreibungen gerechtfertigt sind, empfindet aber Kindestötung immer als Mord. Es gibt aber eine Zeit von fünf Monaten, in denen ein und dasselbe Individuum ein Fötus sein kann oder ein Kind, je nachdem, ob es sich außerhalb oder innerhalb des Bauchs befindet. Trotzdem sagt das Gesetz, dass ein Individuum, solange es im Bauch der Mutter ist, ein Fötus ist und dementsprechend behandelt wird. Sobald es hingegen außerhalb des Bauchs ist, ist es unantastbar. So etwas ist zum Beispiel willkürlich. Es ist ein Leichtes für Moralphilosophen, hier konsistente Lösungen aufzuzeigen.


Leichter, als die Menschen von diesen Lösungen zu überzeugen?

Ja, diese konsistenten Wege dann zu akzeptieren, ist für uns Menschen schwierig. Sie haben oft einen gewissen Preis, wir müssen dafür auch Dinge aufgeben, an die wir glauben.


Was konsistent ist, muss noch nicht richtig sein. Moralphilosophen liefern oft denkbar unterschiedliche Antworten, die alle in sich stimmig erscheinen.

Ich glaube, es gibt plausiblere Wege als andere, um Konsistenz zu erzeugen, aber natürlich haben unterschiedliche Philosophen unterschiedliche Ansichten, und das ist genau die Debatte, die ich führe. Ich glaube, im obigen Fall muss man zum Beispiel verstehen, wie unterschiedlich schlimm es je nach Alter für ein Individuum ist zu sterben, man muss den Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen verstehen, man muss verstehen, ob es prinzipiell schlimmer ist, jemanden sterben zu lassen, wenn das Sterben der eigentliche Zweck ist und nicht der Nebeneffekt von etwas, und so weiter. Ich habe versucht, hier Fortschritte zu machen.


Und wie ist Ihre Sicht?

Das Plausibelste für mich ist, dass viele Abtreibungen mit der Natur und dem moralischen Status des Fötus gerechtfertigt werden können. Daraus folgt dass auch Kindestötung in gewissen Fällen zulässig ist.


Ist ein rationaler Diskurs in den USA über solche Fragen überhaupt möglich?

Über das Niveau des öffentlichen Diskurses in den vergangenen Jahren bin ich sehr deprimiert, vor allem bei den Republikanern. Ihre Kandidaten sind einfach viel dümmer als die der Demokraten. In anspruchsvollen Publikationen wie der „New York Review of Books“ kann ernsthaft diskutiert werden, aber das erreicht nur einen minimalen Teil der Öffentlichkeit. Man kann nur hoffen, dass man kluge Leute mit politischem Einfluss erreicht. Über das demokratische System geht gar nichts.


Auf der Philosophie-Plattform „The Stone“ der „New York Times“ haben Sie höchst Kontroversielles geschrieben. Zum Beispiel, warum die kontrollierte Ausrottung aller fleischfressender Spezies, wäre sie ökologisch verträglich, wünschenswert wäre, warum Verhinderung von Tierleid über Artenschutz stehe. Wie waren die Reaktionen?

Auf diesen Text über das Töten von Tieren gab es zu meiner Überraschung die schlimmsten Reaktionen, viel schlimmer als auf meinen wirklich radikalen Text zur Einschränkung des Waffenbesitzes. Die Kommentare waren schockierend, und die meisten haben gar nicht verstanden, was ich meinte, obwohl ich sehr darauf geachtet hatte, verständlich zu schreiben. Dabei war das die „New York Times“ . . .


Und der Text zur Waffenkontrolle?

Er forderte ein fast totales Verbot privaten Waffenbesitzes. Das ist am äußersten Ende des in den USA Vertretbaren, ich kenne niemanden, der das öffentlich gesagt hat, nur hinter vorgehaltener Hand. Ich befürchtete Todesdrohungen, aber der Text erschien kurz nach dem Amoklauf an der Sandy-Hook-Volksschule, das dürfte die Kritiker kurz zum Schwiegen gebracht haben.


Wie kann das Recht auf Waffenbesitz in den USA eine so heilige Kuh sein?

In den USA hat sich die Bevölkerung von Osten nach Westen ausgebreitet, bevor sich staatliche Strukturen etablierten, da waren Waffen wirklich wichtig. In Europa dagegen haben sich politische Institutionen entwickelt, bevor es massenhaft Waffen gab. Das ist ein Teil der Erklärung. Dazu kommt die stärkere Unterstützung des Libertarismus, die Skepsis gegenüber staatlichem Einfluss. Viele Menschen bei uns bilden sich ein, dass sie ihre Waffen vielleicht einmal brauchen könnten, um gegen ein tyrannisches Regime zu kämpfen.


Tief ist auch die Kluft zwischen den USA und Europa, was die Todesstrafe angeht.

In Europa waren die Regierungen zum Teil früher gegen die Todesstrafe als die Bevölkerung selbst. In Großbritannien wurde sie abgeschafft, bevor das Volk dafür war. Die Leute haben dann gesehen, dass es sich nicht auf die Kriminalitätsrate auswirkt, und ihre Haltung geändert. Die Todesstrafe hängt auch mit dem Waffenbesitz zusammen. Da Menschen die Waffe sofort zur Hand haben, ist die Mordrate in den USA viel höher – worauf wiederum die Regierung hart reagiert. Dabei wären viele Mörder keine, würden sie nicht so leicht zu einer Waffe kommen. Und dann gäbe es auch weniger Grund für die Todesstrafe.


Ist die Frage, ob man Fleisch essen soll oder nicht, für Sie philosophisch kompliziert?

Im Gegenteil, ich habe immer gefunden, dass sie im Vergleich zu anderen Fragen wie Kindestötung oder Sterbehilfe keine komplizierte moralische Frage ist. Man sieht das auch in der philosophischen Literatur – die Argumente dafür sind miserabel . . .


Auch jenes, dass der Fleischkonsum bei guter Tierhaltung sehr vielen Lebewesen ein gutes Leben ermöglicht, die sonst gar nicht auf der Welt wären?

Gerade wollte ich dazu sagen, dass es eine Ausnahme gibt, ein einziges Argument, das wirklich tief reicht, und zwar genau dieses. Es geht davon aus, dass es für ein bestimmtes Individuum gut ist, geboren zu sein und ein gutes Leben zu haben. Wenn das zutrifft und wenn wir Tieren ein lebenswertes Leben ermöglichen, das es sonst nicht geben würde, könnte das Fleischessen eine gute Sache sein. Allerdings gibt es ein gewaltiges Problem dabei, nämlich, dass kaum jemand dieses Argument akzeptiert, wenn es nicht um Tiere, sondern um Menschen geht. Wir könnten ja Menschen schaffen, ihnen dreißig Jahre lang ein schönes Leben ermöglichen, sie dann schmerzfrei töten und mit ihren Organen fünf andere Menschen retten. Nur eine sehr, sehr kleine Minderheit zieht diese Konsequenz. Bleibt die Frage, was der Unterschied zwischen derselben Vorgangsweise bei Mensch und Tier ist. Und da kommt man in richtig schwierige Bereiche hinein, denen, glaube ich, noch niemand ganz auf den Grund gegangen ist.


Ist die Macht der Gewohnheit nicht ohnehin viel größer als die Macht der Philosophie?

Gewohnheiten sind ein mächtiger Faktor, das gilt für viele Praktiken, bei denen wir heute Fortschritte gemacht haben. Man braucht sich nur die Haltung zur Sklaverei anzusehen. Das waren keine bösen, ignoranten Menschen, die dafür waren, sondern ganz normale. Das System war eben vertraut, etabliert, wichtig für die eigenen Interessen, legitimiert von der Religion – es schien den Menschen einfach nicht klar, warum das nicht zulässig sein sollte! Sie schauten um sich und sahen, dass ihr Nachbar, ein Musterbeispiel von Rechtschaffenheit, es auch so hielt. So ist es auch mit dem Fleischessen. Es braucht sehr lange Zeit, bis die Menschen sich umgewöhnen.

Herr McMahan, darf man Sie auch fragen . . .

1 . . . ob das Nein zum Fleischessen Sie zum Philosophen – oder die Philosophie Sie zum Vegetarier gemacht hat?
Ersteres. Ich stamme aus einer Jägerfamilie und hatte mit zwölf mein erstes Gewehr, schoss auf Vögel, die wir dann aßen. Irgendwann revoltierte ich innerlich dagegen, und dann hatte ich meinen vielleicht ersten philosophischen Gedanken: Wenn ich selbst nicht Vögel töten und essen will, sollte ich auch nicht Fleisch kaufen von Tieren, die von anderen getötet worden sind.

2 . . . ob Ihr Buch „Killing in War“ von 2009 auch eine Reaktion auf die Politik Ihrer Heimat war?
Nicht dieses Buch selbst, aber mein langes Interesse an der Ethik des Tötens überhaupt. Zur Zeit des Vietnam-Kriegs war ich in der Schule. Als ich dann in Cambridge forschte, war Reagan Präsident und wollte von den USA kontrollierte Nuklearwaffen in Europa installieren. Ich schrieb damals über die Ethik von Nuklearwaffen. Damit hat alles begonnen.

Steckbrief

1954: Geboren in den USA.

1980er-Jahre: McMahan promoviert nach einem Studium in Oxford an der Universität Cambridge beim berühmten Moralphilosophen Bernard Williams. Beginn einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Ethik des gezielten Tötens.

2002: „The Ethics of Killing: Problems at the Margins of Life“ erscheint - über die Frage des moralischen Status etwa von Föten, Menschen mit schweren Hirndefekten oder Tieren.

2009: Im Buch „Killing in War“ argumentiert McMahan vor allem gegen die These vom „gerechten Krieg“.

Seit 2014 ist McMahan White's Professor of Moral Philosophy an der Universität Oxford.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2016)

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