Krasanovsky: Geschichten aus dem Schleudersitz

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Regisseur Josef Maria Krasanovsky hat mit seinen Schauspielern ungefilterte Lebensgeschichten gesammelt, um sie auf die Bühne zu bringen.

Hier eine Gewalttat, da ein Bankraub: Geschichten, die oft reißerisch daherkommen – und von denen man trotzdem nur die Eckpunkte erfährt. Er habe, sagt Josef Maria Krasanovsky, ein „großes Feindverhältnis“ zum Boulevard und seinen Schlagzeilen. „Es war mir immer ein Bedürfnis, ein Projekt zu machen, bei dem man ungefiltert hinter diese Bilder schaut.“ In den vergangenen Monaten hat er das intensiv getan. Hat mit Vertretern von Institutionen und Betroffenen gesprochen, war beim Augustin, beim Verein Neustart oder in der Gruft, wo man sich jetzt zum Foto wiedergetroffen hat. Am Vormittag ist die Notschlafstelle leer, die Betten sind verwaist, die Böden frisch geputzt, nur in der Luft hängt noch der Geruch der dicht gedrängt verbrachten Nacht.

„Wir leben in einer Zeit, in der die Funktion von jemandem total wichtig ist“, sagt Krasanovsky. Es sei eine Zeit der Hochstapelei und Selbstdarstellung, nur in den Randbereichen würden Menschen gar nicht in die Lage kommen, sich um ihre Selbstdarstellung zu kümmern, „weil sie mit dem existenziellen Dasein zu tun haben“. Wobei er das Wort Randgruppen nicht mag, lieber spricht er von „Schleudersitzmenschen“. „In vier Sekunden kann alles anders sein.“ Nicht nur für jene Frau, deren reicher Verlobter vor ihren Augen überfahren wurde.

Mehr als 30 Interviews hat er mit seinem Team geführt, 600 Seiten transkribierte Gespräche zusammengetragen. Am Ende habe sich jeder der Darsteller einen Protagonisten gesucht, mit dem die Chemie besonders gestimmt habe, wo man auf eine Lebensgeschichte gestoßen sei, „die man erzählen muss“. Wobei: Manche dieser Lebensgeschichten seien so dicht, „dass es für sieben Leben reichen würde“. Da sei der einstige Spielsüchtige, der seine Besessenheit schildert, der berühmte Mörder, der liebevoll seinen Goldfisch füttert, die Frau, die beim Begräbnis ihres grausamen Vaters ihr Gesäß entblößt – und dafür ins Gefängnis wandert. Dazwischen das „ganz große Feld der sexuellen Perversion. Es gibt Dinge, die hätten wir uns nie gedacht.“ Oft seien die Erzählungen erstaunlich offen gewesen. Nicht zufällig, glaubt Krasanovsky. Vor Richtern, Gutachtern und Therapeuten müssten Menschen oft einen bestimmten Eindruck erwecken, Nahestehende würden geschützt. Vor den Theaterleuten hätten sich manche viel vom Leib geredet: „Wir waren nur daran interessiert, wie jemand auf sein Leben schaut.“ Was er heute anders machen würde, wurde ein junger Mann gefragt, der mit zwölf die erste Waffe und mit 15 mehr als 300 Einbrüche auf dem Kerbholz hatte. Alles „smarter wiederholen“.

Rosi und Michl

Die eigenen, oft sozialromantischen Bilder habe man dabei jedenfalls gründlich revidiert, sagt Krasanovsky: Elend schweißt nicht alle zusammen, Arme müssen nicht solidarisch, können genauso ausländerfeindlich agieren. Aber auch: Wer obdachlos ist, muss nicht ungewaschen – und kann ein Vorbild an Würde und Lebenswillen sein. Mit dem Vorwurf, Sozialporno zu betreiben, rechnet Krasanovsky jedenfalls. „Wir sparen nichts aus. Aber darum geht es ja: einmal keinen Filter draufzulegen.“ Außerdem werde Anonymität gewahrt und „niemand vorgeführt“. Und dass Rosi und Michl aus der Gruft selbst auf der Bühne stehen – das sei deren eigenes, hartnäckig verfolgtes Anliegen gewesen.

AUF EINEN BLICK

Josef Maria Krasanovsky wurde 1976 in Salzburg geboren und studierte Film- und Theaterregie. 2007 gründete er die Compagnie Luna, um mit ihr eigenverantwortlich Stücke zu entwickeln. 2012/13 inszenierte er Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ in Graz. Zum Zehn-Jahr-Jubiläum von Luna hat heute Abend im Kosmos-Theater das Stück „Nachrichten aus dem Schleudersitz“ Premiere, das auf realen Biografien basiert. Es spielen Claudia Carus, Benjamin Kornfeld, Gernot Piff und Simona Sbaffi. Termine bis 29. Oktober.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2016)

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