Mundl Sackbauers Geburtsort: Die letzten Tage des Café Industrie

Ruth Binder muss das Caf´e Industrie nach 103 Jahren zusperren.
Ruth Binder muss das Caf´e Industrie nach 103 Jahren zusperren.(c) Katharina Fröschl-Roßboth
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Ernst Hinterberger fand die Inspiration für den „Kaisermühlen-Blues“ im Café Industrie, das nun nach 103 Jahren schließt: Das Ende einer Institution.

Auf ein letztes Bier und auf eine letzte Tschick. Zu diesem Zwecke bekommt Ruth Binder (55) zurzeit viel Besuch. So viele Gäste wie dieser Tage hatte die Wirtin des Café Industrie am Margaretengürtel in den vergangenen Monaten nur selten. Der lang ersehnte Kundenstrom kommt nur zu spät: Nach 103 Jahren wird das Café am nächsten Samstag, 27. Mai, schließen – mehr als 40 Jahre war es im Besitz von Binders Familie.

Zu viele Auflagen der Behörden, die unfinanzierbar seien, sagt Binder. Zu viele Beschwerden der Anrainer wegen Lärms, argumentiert die Behörde. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Fans nutzen nun die letzten Gelegenheiten, um im verrauchten Beisl in Erinnerungen zu schwelgen und die Trauer mit einem schal schmeckenden Spritzer hinunterzuspülen. Warum der Verlust des Lokals überhaupt Wehmut auslösen könnte, verstehen Außenstehende auf den ersten Blick wohl nicht: Die Wände sind gelb, die Vorhänge vergilbt, die Sitzmöbel abgewetzt, die Klobrillen mit Klebeband fixiert – alles in allem scheint das Industrie wenig attraktiv.

Aber das Café gehört zu einer aussterbenden Gattung Wiener Lokale, die man in der Hauptstadt gemeinhin Tschocherl nennt: Das sind meist etwas abgewohnte Stätten, in denen man sich hauptsächlich trifft, um sich billig zu betrinken. Nur, dass das Café Industrie ein Tschocherl mit Stil ist, eine Inspiration für Künstler, ein Ort der besonderen Begegnungen. Hier mischen sich Gemeindebaubewohner mit Schwarzarbeitern aus dem Osten, ehemaligen Häftlingen, Prostituierten, Studenten und Journalisten.

Inspiration für Mundl Sackbauer

Berühmt wurde das Lokal am Ende der Arbeitergasse durch Schriftsteller Ernst Hinterberger, der im heute nach ihm benannten, benachbarten Gemeindebau lebte. Er war Stammgast, trank hier täglich ein Achterl oder zwei – und das bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2012, wo er im verrauchten Lokal oft mit Sauerstoffgerät gesichtet wurde. Laut eigenen Angaben fand er im Industrie die Inspiration für seine Charaktere, unter anderem für den „Kaisermühlen-Blues“. Die Figur des Mundl Sackbauer aus Hinterbergers "Ein echter Wiener geht nicht unter", ist das, was man im deutschsprachigen Raum unter dem Prototypen des „echten Wieners“ versteht. Auch Pop-Literatin Stefanie Sargnagel verkehrt hier regelmäßig – ebenso wie andere Autoren oder Journalisten, die die schillernden Geschichten der alten Stammgäste schätzen.

Da erfährt man etwa von einem Exhäftling an der Bar von Schießereien und Schlägereien, die in den 1970ern im Lokal stattgefunden haben. Daneben sitzt ein Installateur aus Exjugoslawien, der nur mehr auf seine Pension wartet, weil ihm seine arthritischen Finger wehtun und er trotz 40-Stunden-Woche nur 850 Euro verdient. Die beiden sind mit einer ehemaligen Prostituierten befreundet, die es geschafft haben will, weil sie nun ein Nagelstudio hat. „Ich mache nur Hände, keine Füße“, sagt sie. „Davor graust mir.“

Da solche Geschichten in Kunst und Kultur Eingang gefunden haben, hat Binder 2012 eine Kunst- und Kulturreihe gestartet. Da gab es Musikabende mit Bands aus der Umgebung, Literaturabende, bei denen arrivierte Schreiber ebenso vortrugen wie Hobbylyriker aus dem Gemeindebau nebenan. Gemeinsam grölte man bei Karaokeabenden Austropop-Hits und Wiener Lieder – das Café erfreute sich großer Beliebtheit und wurde zum Fixtreffpunkt im sonst eher tristen Grätzel.

Industrie light ums Eck eröffnet

„Aber dann hat es mir ein Nachbar abgedreht“, sagt Binder. Der Herr im vierten Stock, der seit Jahren am lauten Gürtel wohnt, hat sich über die Musik beschwert. Dann kamen die Behörden und bemerkten, dass Binder für Veranstaltungen keine passende Betriebsanlagengenehmigung hat. „Den Umbau hätte ich mir nicht leisten können“, sagt Binder. „Darum sperre ich nächsten Samstag zum letzten Mal auf.“

Einen kleinen Trost für alteingesessene Industrie-Fans gibt es aber: Kellnerin Conny, die jahrelang die gute Seele des Lokals war, hat ums Eck in der Schönbrunner Straße 112 Connys Café eröffnet. Der Spritzer hat dort sogar Kohlensäure.

ZUM LOKAL

Tradition. Das Café am Margaretengürtel Ecke Arbeitergasse öffnete vor 103 Jahren seine Türen. Den Namen Industrie hat es wohl, weil der Bezirk damals hauptsächlich von Fabriken geprägt war. Seit den 1970er-Jahren betreibt Ruth Binders Familie das Café – sie hatte es nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 2012 übernommen und modelte es vom Brantweiner zu einer Kleinkunstinstitution um. Die nötige Betriebsanlagengenehmigung fehlte ihr aber, darum wird das Industrie am nächsten Samstag, 27. Mai, das letzte Mal aufsperren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2017)

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