Karl Schwarzenberg: „Mein Vater war eher ein Antisemit“

Karl Schwarzenberg: „Die bösen Geister sind wie die haitianischen Revenons alle wieder unter uns.“
Karl Schwarzenberg: „Die bösen Geister sind wie die haitianischen Revenons alle wieder unter uns.“(c) Katharina Roßboth
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Tschechiens Ex-Außenminister führt durch die Judaica-Sammlung seiner Erinnerungen. Für Israel hat er eine Warnung parat: Es könne sich nicht darauf verlassen, mit dem Hinweis auf den Holocaust Unterstützung zu bekommen.

Sie haben einmal gesagt, Sie fühlen sich wie ein Direktor eines Museums, dessen Inhalt Sie selbst sind. Ich möchte Sie um einen Rundgang durch die jüdische Abteilung bitten. Woher rührt Ihre starke Bindung zu Israel und den Juden?

Karl Schwarzenberg: Das hat verschiedene Gründe. Leider bin ich schon ein alter Mann und habe infolge dessen noch das Protektorat der Nazis in Böhmen und Mähren erlebt. Ich habe den gelben Judenstern gesehen.

Wie alt waren Sie damals?

Vielleicht vier Jahre. Es muss im Frühjahr 1942 oder noch 1941 gewesen sein, jedenfalls, bevor Reinhard Heydrich [Leiter des Reichssicherheitshauptamts und stellvertretender Reichsprotektor, Anm.] meine Familie aus dem Schloss Orlik ausgewiesen hat: Ich ging mit meinem Vater ins Dorf hinauf. Das waren noch alte Zeiten, jeder grüßte meinen Vater, aber plötzlich zog mein Vater den Hut und verneigte sich. Eine verhuschte, dunkel gekleidete Frau kam ihm entgegen und nickte ihm zu. Sie trug einen gelben Stern. Es war Frau Silhanova; sie überlebte den Holocaust Gott sei Dank. Jeder, der diese Zeit als Kind mitgemacht hat, hat feste politische Einstellungen – sofern seine Familie nicht im anderen Lager stand.

Ihre Familie nahm damals eine sehr starke Anti-Nazi-Haltung ein.

Ja, aber da gibt es auch noch eine Merkwürdigkeit über meinen Vater zu berichten, dem ich viel verdanke. Meine Mutter hatte zeit ihres Lebens unzählige jüdische Freunde, in Wien, in Prag und überall. Mein Vater dagegen, das gestand er ganz offen ein, war in den 1930er-Jahren eher ein Antisemit. Dann aber kam die Ernüchterung durch die Nazis. Er ist draufgekommen, wohin das führen kann.

Warum war Ihr Vater Antisemit?

Er war sehr katholisch. Und viele antiklerikale Journalisten und Politiker, die am meisten an der Kirche auszusetzen hatten, waren jüdischen Ursprungs. Der Vorteil war: Mein Vater hat mir klargemacht, wie man einer solchen Versuchung anheimfällt und darauf hineinfällt. Er hat die Lehre daraus gezogen und mich anders erzogen.

Ihr Vater dachte um.

Er dachte um und hatte danach viele jüdische Freunde: in Israel, aber auch in Wien. Er korrespondierte zum Beispiel mit Friedrich Torberg, der ihn einmal bat zu erklären, wie Antisemiten denken. Mein Vater legte es in einem Brief dar und unterschrieb mit: Ihr alter Antisemit. Man sollte Phänomene wie den Antisemitismus nicht nur aus der heutigen Perspektive sehen, sondern auch in den Kontext der Vorkriegszeit stellen. Sie kennen den Witz ja wahrscheinlich: Graf Bobby trifft im Sommer 38 seinen Freund Rudi. „Schrecklich, diese Nazis, schrecklich“, sagt er. „Den ganzen schönen Antisemitismus haben sie uns verdorben.“

Das zeigt, wie breit die antisemitische Strömung in Österreich war.

Ich würde sagen, der Antisemitismus war bei 90 Prozent der Bevölkerung endemisch ausgebreitet, egal ob rechts oder links.

Wie stark war der Antisemitismus in Wien in der Nachkriegszeit noch ausgeprägt?

Das ist für mich schwer zu sagen. Der Guru meiner Jugend war Friedrich Torberg. Wann immer ich konnte, saßen wir am Abend in der Marietta-Bar zusammen. Torberg hielt Hof, Gerhard Bronner betrieb diese Bar. Das war eine Hochschule für mich. So sind Freundschaften entstanden. Ich lernte dort auch Bronners Sohn, den Ossi, kennen. Mit ihm habe ich dann den „Trend“ gegründet und so weiter.

So entstand Ihre persönliche Bindung zu Juden?

Ja. Und dann bin ich mit Fritz Molden und Jakob Coudenhove 1964 nach Israel gereist. Ich muss sagen, ich war bezaubert.

Warum?

Es war ein anderes Israel als heute. Es war noch das Israel der Pioniere, eine Zeit, in der man noch nicht die Wohnungen versperrt hat, in der die Kibbuzim das Rückgrat des Landes bildeten. Die Begeisterung, mit der die Israelis ihr Land aufbauten, faszinierte mich.

Sie haben als tschechischer Außenminister, von 2007 bis 2009 und von 2010 bis 2013, Israel anders als die meisten anderen Ihrer EU-Amtskollegen stets verteidigt. Warum?

Das ist eine traditionelle tschechoslowakische Haltung, die im Grunde bis 1899 zurückreicht. Tomáš Garrigue Masaryk hatte schon damals als Reichtagsabgeordneter und Prager Universitätsprofessor Stellung bezogen gegen die scheußliche Hetzkampagne im Fall Leopold Hilsner, eines jüdischen Schusters, dem der Mord an einem Mädchen in Mähren zur Last gelegt wurde – mit wildesten Theorien bis hin zum Ritualmord. Seither waren Masaryk und alle um ihn auf den Kampf gegen Antisemitismus eingestellt.

Und das war auch nach 1918 für die junge tschechoslowakische Republik prägend.

1927 besuchte Masaryk als erster europäischer Präsident bei einer Palästina-Reise jüdische Siedlungen. Er war ein großer Freund Israels. 1948 hat die israelische Armee dank der tschechoslowakischen Waffenlieferungen überlebt. Seine erste Botschaft der Welt eröffnete Israel übrigens im Haus meiner Eltern in Prag.

Ist die Botschaft noch immer in Ihrem Gebäude?

Nein, die Israelis wurden ja 1967 ausgewiesen.

Nach der Machtübernahme der Kommunisten 1948 nahm die antizionistische Propaganda überhand.

Stalin hatte gehofft, dass sich David Ben-Gurion, der zweifellos Sozialist war, dem sozialistischen Block anschließen würde. Da unterschätzte er allerdings die Intelligenz von Ben-Gurion, der sich auf die westliche Seite schlug. 1948 startete Stalin Kampagnen gegen Juden, die in der sogenannten Ärzteverschwörung gipfelten. In der Tschechoslowakei liefen zu Beginn der 1950er-Jahre Prozesse mit eindeutig antisemitischem Hintergrund an, gegen den ehemaligen KP-Generalsekretär Rudolf Slansky und andere.

Václav Havel schloss nach der Samtenen Revolution wieder an Masaryks Tradition an und reiste im April 1990 als erster Präsident eines postkommunistischen Landes wieder nach Israel. Sie waren damals sein Kanzler.

Es war für uns selbstverständlich, die Freundschaft zu Israel zu pflegen. Für die ganze Gruppe rund um Havel. Er wollte so schnell wie möglich nach Israel. Es war eine prachtvolle Reise. Die Tschechen sind heute noch Verbündete Israels in Europa.

Warum hat sich zwischen Österreich und Israel nie ein derart starkes Solidaritätsband entwickelt, wie es Deutschland geknüpft hat?

Erstens gab es in Österreich keine Reeducation, keine Umerziehung durch die Amerikaner also, zweitens folgte Österreich über mehrere Jahrzehnte der Staatsdoktrin, dass es reines Opfer war und nicht Täter. Infolgedessen hat man sich in Österreich im Unterschied zu Deutschland nicht verpflichtet gefühlt, Israel besonders nahe zu sein. Bei vielen gab es auch keinen Bruch in der antisemitischen Tradition.

Sie kannten Bruno Kreisky. Welche Rolle hat er als jüdischer Bundeskanzler der Republik im ambivalenten Verhältnis Österreichs zu Israel gespielt?

Kreisky hatte ein schwieriges Verhältnis zu Israel. Er war sicherlich das Gegenteil von einem Zionisten. Er hielt die ganze israelische Politik für unglücklich, verfehlt und à la longue für katastrophal. Deswegen versuchte er auch, Verbindungen zu den arabischen Ländern herzustellen und sich an Vermittlungsgesprächen zu beteiligen.

Hatten Sie Verständnis für Kreiskys Idee, einen Ausgleich mit der PLO zu suchen?

Ich hatte dafür Verständnis. Man muss auch mit dem größten Feind reden, wenn man eine Lösung finden will. Ich hielt es aber für keine gute Idee, Terroristen nach einer Geiselnahme Zugeständnisse zu machen und das Transitlager für sowjetische Juden in Schönau zu schließen. Und als wirklich empörend empfand ich Kreiskys Angriffe auf Simon Wiesenthal.

Glauben Sie mehr als 20 Jahre nach Beginn des gescheiterten Oslo-Friedensprozesses noch immer an eine Zweistaatenlösung?

Ja, weil noch keiner eine bessere Idee hatte. Aber langsam wird mir unklar, wie überhaupt noch ein zweiter Staat entstehen kann. Wenn man sich die Siedlungen in den besetzten Gebieten ansieht, dann blieben nur noch Bantustans wie in Südafrika übrig, aber kein zusammenhängender Staat.

Wie schätzen Sie das gegenwärtige Verhältnis zwischen Israel und Europa ein?

Na, es könnte besser sein. Ich bin nicht mehr Außenminister und nicht mehr bei den Beratungen. Ich habe nur bemerkt, dass Deutschland zwar aus historischen Gründen nach wie vor solidarisch mit Israel ist, die wahre Begeisterung dort aber auch abgefallen ist.

Die Haltung Deutschlands zu Israel ist durch die Verantwortung für den Holocaust geprägt. Glauben Sie, dass dieses Motiv im Laufe der Zeit abnehmen wird?

Alles versinkt langsam in der Vergangenheit. Darüber müssen wir uns klar sein. Es sind nur noch die letzten Opfer, die als Kinder im KZ waren, unter uns. Für einen jungen Menschen, der in den 1970er-Jahren geboren wurde, ist der Holocaust so aktuell wie für mich die Monarchie. Er spielt noch immer eine historische Rolle. Man weiß darüber sehr viel, aber die Emotionalität verblasst.

Was folgt daraus?

Dass sich Israel nicht darauf verlassen kann, mit dem Hinweis auf den Holocaust immer Unterstützung zu bekommen.

Israel verlässt sich nicht auf Europa, sondern auf die USA und sich selbst.

Madame Mère hat zu ihrem Sohn Napoleon, wenn er von seinen siegreichen Feldzügen erzählt hat, immer gesagt: „Pourvu que ça dure.“ „Ich hoffe, dass es hält.“ Die Israel-Begeisterung in den USA ist erst eine Angelegenheit der letzten 60 Jahre. Wie wir leider jetzt in Europa feststellen: Die bösen Geister lassen sich nicht wegsperren. Irgendwann tauchen sie wieder auf. Die bösen Geister sind wie die haitianischen Revenons alle wieder unter uns.

Steckbrief


ERSCHIENENDas Interview ist eine gekürzte Version des Beitrags, der in einem aktuellen Buch erscheint:

„Die Zukunft Europas und das Judentum“ Herausgegeben von: Oskar Deutsch

Böhlau Verlag Wien

Zu den Autoren zählen Shlomo Avineri, Wolfgang Benz, Ronald S. Lauder, Sebastian Kurz, Charlotte Knobloch und Bassam Tibi

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2017)

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