Ein Weg aus der Taubheit

Eine Massai-Frau in Kenia trägt traditionellen Schmuck. Die meisten Ethnien in dem ostafrikanischen Land kennen die weibliche Genitalverstümmelung.
Eine Massai-Frau in Kenia trägt traditionellen Schmuck. Die meisten Ethnien in dem ostafrikanischen Land kennen die weibliche Genitalverstümmelung.REUTERS
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Als Zwölfjährige wurde die Kenianerin Ntailan Lolkoki genitalverstümmelt. Sie habe lang gebraucht, um zu verstehen, dass ihr Unrecht getan worden sei, schreibt sie in ihrer Autobiografie. Mit einer Rückoperation begann ihr Leben neu.

Was Ntailan Lolkoki aus ihren Kleinkinderaugen sah, waren fesselnde Szenen. Die Krieger der Massai und Samburu ölten sich ein, trugen Perlenketten und Lederröcke, sie tanzten und sprangen währenddessen in die Höhe, und zwar unvermittelt hoch. Manche bewegten sich in Trance, zitterten, die anderen mussten sie festhalten. „Die gesamte Umgebung war wie aufgeladen mit Energie“, erinnert sich Lolkoki. Eine außergewöhnliche Stimmung, wie sie beschreibt, ein bisschen magisch. Die Schönheit wurde zur Schau getragen, von den Kriegern, aber auch von den Frauen, die sich für den Anlass stundenlang zurechtgemacht hatten.

Erst viel später realisierte Lolkoki, dass dieser Zeremonie jener Moment folgt, der viele Frauen mit Leere, Schmerzen und Traumata erfüllt. Denn die Rituale, der Tanz und die Vorbereitungen, enden mit der Genitalbeschneidung der Mädchen, zu deren „Ehren“ die Tänze abgehalten werden. Bei den Massai und Samburu, zwei verwandten Volksgruppen in Kenia, ist die Beschneidung von Frauen – Female Genital Mutilation (FGM) – noch verbreitet. Lolkoki selbst wurde mit zwölf Jahren ebenfalls verstümmelt. Es sollte lang dauern, bis sie begriff, dass ihr Unrecht getan wurde.

In ihrer Autobiografie „Flügel für den Schmetterling“, das im August im Knaur-Verlag erscheint, erinnert sich Lolkoki an ihre Kindheit im Norden Kenias zurück, an die Abenteuer in einem „Reich voller Tierherden“, wo es genug Regen und somit genug zu essen gab. Ein ruhiges, ein geregeltes Leben. Lolkokis Vater, ein Samburu und bei der Polizei tätig, spürte Viehdiebe auf, ihre Mutter, eine Massai, blieb zu Hause bei den drei Töchtern. „Wie die Massai leben die Samburu als halb nomadische Hirten und gehören zu den traditionsbewusstesten der über 40 großen Ethnien in Kenia“, schreibt Lolkoki. Die Genitalverstümmelung hingegen kennt ein Großteil der in Kenia ansässigen Ethnien, wenn sie auch nicht alle stringent praktizieren. Der Organisation Terre de Femmes zufolge sind in Kenia 21 Prozent der Mädchen zwischen 15 und 49 Jahren betroffen.

Viele Tiefschläge

Muratare, so heißt die letztlich schmerzvolle Zeremonie. „Es wurde von jedem jungen Mädchen erwartet“, schreibt Lolkoki, „durch Muratare zu einer Frau zu werden, dann zu heiraten und Kinder zu bekommen. Wie alle Mädchen hatten wir das von klein auf so von unseren Tanten gehört. Alles andere bedeutete, einen Fluch auf die Familie zu laden.“ Sie selbst und eine ihrer Schwestern wurden von ihrer Mutter für den Eingriff in ein Krankenhaus gebracht. Was sie im Spital erlebt hat, erleben andere unter unhygienischen Bedingungen, dabei wird die Beschneidung mit einer Rasierklinge oder einer Glasscherbe durchgeführt, die Naht mit Pferdehaar oder Tierdarm zusammengenäht. In jedem Fall aber handelt es sich um Folter, und Lolkoki ist eine Überlebende – aber auch das habe sie erst viel später begriffen, schreibt die Autorin.

Die Wunden heilten langsam ab, aber die Taubheit blieb: „Der Schmerz war schrecklich gewesen, doch schrecklicher war das Nichts, das ihm folgte.“ Viele Tiefschläge in ihrem Leben führt Lolkoki auf dieses Nichts zurück, das paralysierend wirkte, ganz zu Schweigen von der „riesigen Angst vor Sex“. Ihre Beschneidung fiel in die Zeit, als sich auch ihre Eltern trennten und die familiäre Geborgenheit zerfiel. Die Mutter verließ die Kinder, konsumierte den selbst gebrannten, oft gepanschten Changaaschnaps. Später wird auch Ntailan Lolkokis älteste Schwester ihren Kummer in Alkohol ertränken – um die Leere zu bekämpfen, die sie und andere Betroffene seit der Genitalverstümmelung umgibt, wie Lolkoki schildert.

Ihr Leben beschreibt Lolkoki in ihrem Buch wie eine unruhige Odyssee auf der Suche nach Erfüllung. Über eine Bekanntschaft kommt die erst 17-Jährige nach Großbritannien, heiratet ihren Freund, wird als Ehefrau aber nicht glücklich. Sie arbeitet als Model, wird selbstbewusster, was ihren Körper betrifft, nach außen jedenfalls. Sie kommt mit Waris Dirie in Berührung, dem österreichschen Model mit somalischen Wurzeln, die mit ihren Büchern das Thema weibliche Genitalverstümmelung einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht hat. Lolkoki hat Liebhaber, mit denen sie nicht immer Glück hat, zumal sie auf sexueller Ebene keine Erfüllung findet. Sie lebt in Großbritannien und Deutschland, sie schließt sich einer christlichen Gruppe an und wird fanatisch in ihrem Glauben. So kehrt sie für zwei Jahrzehnte nach Kenia zurück, um als Sozialarbeiterin anzuheuern. In Kenia trifft sie auch auf ihre große Liebe, einen Deutschen. Als dieser nach Berlin zurückkehrt, will sie es noch einmal in Europa versuchen.

Lolkoki schafft es, sich nach vielen Enttäuschungen immer wieder aufzurappeln. Zu einer tiefen Veränderung in ihrem Leben führt jedoch die Rückoperation, die sie im Berliner Krankenhaus Waldfriede durchführen lässt, eine Einrichtung, die auf die ganzheitliche Betreuung von genitalverstümmelten Frauen spezialisiert ist. Nicht bei allen Frauen ist dieser Eingriff möglich, denn viele Verstümmelungen sind außerordentlich radikal und tiefgreifend. Lolkoki selbst ist über 30 Jahre alt, als sie diesen Schritt wagt. „An diesem Tag wurde ich wiedergeboren“, schreibt sie und erzählt von ihrem neuen Körpergefühl, ihrer neuen Ausstrahlung. Heute lebt sie als Künstlerin in Berlin. Und will mehr denn je mit diesem Thema an die Öffentlichkeit.

Kenia


ErschienenNtailan Lolkoki
„Flügel für den Schmetterling. Der Tag, an dem mein Leben neu begann“ Knaur Verlag
272 Seiten, 17,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2017)

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