Bibliothek in Tianjin: Architektur spricht Bände

Das niederländische Architekturbüro MRVDV setzte einen spektakulären Wissensspeicher in die chinesische Hafenstadt Tianjin: eine Bibliothek der Zukunft.

Das Digitale braucht dringend eine Gegenwelt: Räume, in denen sich Raumerfahrungen auch gegenständlich materialisieren können, in denen man körperlich anecken kann, stolpern, das Harte und das Weiche, Länge, Breite, Höhe spüren. Und etwas empfinden. Worte bekommen mit der Tinte, die aus dem Füller fließt, oder den Pigmenten des Farbbands der Schreibmaschine, plötzlich auf dem Papier ihre Gegenständlichkeit. Das Wissen, virtuell und digital so zugänglich wie nie zuvor, bekommt seine Konkretheit in Form der Bibliothek. Gerade das Unangreifbare, Abstrakte braucht Räume, die den Puls erhöhen: Kathedralen. Das ist bei Gott oder dem Wissen der Welt nicht anders. Dem einen baut kaum ein Architekt noch eine Kathedrale. Dem anderen umso öfter. In China sind zuletzt spektakuläre Kulturbauten entstanden, die oftmals ambitionierte bis wahnwitzige Stadtentwicklungsprojekte begleiten. Gerne sind es internationale Architekturbüros, die gerade abseits europäischer architektonischer Zwangslagen ihren Budget- und Gestaltungsspielraum in aufregender Weise ausreizen können.

Für Architekturbüros wie das niederländische MVRDV ist China natürlich auch so eine Spielwiese. Schließlich sind die Architekten rund um Winy Maas dem großen Gestus und dem Spektakulären in der Architektur seit jeher wohlgesonnen. In China, da kann man noch Größe zeigen. Und auch eine kürzlich eröffnete Bibliothek demonstriet, was gegenständliche Räume, die Kraft der Psychogeographie, vermögen: in den Bann ziehen und so etwas, die ureigenste Kathedralen-Aufgabe, wie ein wenig Ehrfurcht einflößen. Oder an eine bestimmte Macht glauben lassen, die sich nicht sofort erschließt. In diesem Fall an jene des Wortes.

(c) imago/Xinhua (Bai Yu)

Ein UFO ist gelandet

Der Entwurf von MVRDV lässt bei der Wirkung des Gebäudes auch deutlich seinen Einfluss spielen: Im Nordosten Chinas, in der Hafenstadt Tianjin, innerhalb eines neu geschaffenen Kulturbezirkes, ist wieder mal, ein ständiges Phänomen der zeitgenössischen Architektur, ein UFO gelandet – die beste Möglichkeit, so scheint's, das Unerwartete und Neue, was man formal eher aus Utopien kennt, für den Betrachter einzuordnen. Denn da schwingt sich dank der Architekten in eleganten Kurven ein grandioses Raumerlebnis auf: ein Atrium, in dessen Zentrum, wie der Nucleus des Ganzen, ein Kugel liegt, ein visueller Effekt-Verstärker, da ihre Oberfläche den Raum optisch noch vergrößert. Im Inneren der Kugel befindet sich ein Auditorium.

(c) imago/VCG

Drumherum winden sich die Wände samt der Bücher empor, um sich über dem Raum zu einem Dach zu schließen, das in der Mitte ein gläsernen Kreis auslässt, durch den Tageslicht ins Innere fällt. Offenheit ist ja so eine gestische Grundanforderung der aktuellen Wissensarchitektur, wie es scheint. Zugänglichkeit statt Hermetik soll sich auch in der Gestaltung manifestieren. Wie auch in jenem Projekt, bei dem das Büro MVRDV in ihrer Heimat schon gezeigt haben, dass sie mit der Typologie Bibliothek auch in der Lage sind, ganz schön unkonventionell umzugehen: in der Nähe von Rotterdam, in Spijkenisse, schufen die Architekten einen Berg aus Büchern, einen Boekenberg, in einer Glaspyramide. Nicht ohne trotzdem gestalterisch, wie das Büro erklärte auf die typische niederländische Scheunenarchitektur zu referieren. Kunststück. 

Die Dimension des chinesischen Projekts geht dabei viel weiter: Die Nutzfläche der Bibliothek beläuft sich auf fast 34.000 Quadratmeter, 1,2 Millionen Bücher finden Platz. Das Gebäude versteht sich konzeptionell auch als Teil eines größeren Stadtentwicklungsprojektes: Deshalb ist es auch, wie es Architekten gerne nennen, "permeabel". Von einem Park gelangt man durch die Bibliothek in einen neuen Stadtteil der chinesischen Hafenstadt.

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