Städtebau: Wie gemalt statt nur geplant

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Nur gebaut, doch nicht gestaltet: Der Städtebau verfällt gern den neuesten Technologien und vergisst dabei auf die Menschen. Ein Wiener hat das schon vor 125 Jahren kritisiert.

Wachsen, Blähen, Ausufern, Explodieren: Städte zeigen alle mö­g­lichen Ausdehnungserscheinungen. Sie wuchern in die Höhe und in die Breite. Vor allem in Asien, Afrika und Amerika, wo Massen von Menschen migrieren und die Städte fluten. Doch auch in Europa legen die Stadtplaner die Stirn in Sorgenfalten, vor lauter Druck, den die zunehmende Migration und die Gesetze des Immobilienmarkts dort aufbauen.

Selbst in Städten wie Wien zieht eine neue Logik im Städtebau geradlinige Masterpläne und möglichst effiziente Muster in den Stadtplan ein. Und diesen zeichnen längst nicht mehr Zufall, Intuition, Improvisation und vor allem auch die Topografie vor. So reihen sich oftmals gesichtslose Häuser in montonen Straßen in Richtung Unendlichkeit aneinander. Der Stadtraum soll gefälligst vor sich hin funktionieren, den Verkehr abspulen, das Stadtleben so reibungslos abwickeln wie möglich. Und nebenbei natürlich noch Renditen abwerfen. Die Investoren sind die Stadtbaumeister von heute. Und erwarten trotz ­alledem, dass die Stadtbewohner auch noch glücklich werden.

Wie gehabt. Im Jahr 2014 scheint also im Grunde alles so zu sein wie damals. Als im 19. Jahrhundert allmählich die Ingenieure den Baukünstlern die Stifte und den Städtebau aus der Hand nahmen. Damals löste die Ära der Industrialisierung eine enorme Welle aus: Massen an neuen Dingen und Menschen, die diese in den Fabriken herstellen sollten, brandeten ungebremst in die Städte. Ihre langsam und organisch gewachsenen Strukturen konnten kaum aufnehmen oder gar schlucken, was da ungebremst auf sie zukam. Plötzlich hatten die Techniker das Lineal in der Hand, zogen die Straßen lang und gerade, degradierten das Ornament an den Häuserfassaden zum vorgefertigen Massenprodukt.

Auch in Städten wie Wien zog eine neue Logik des Städtebaus plötzlich die Entwicklungslinien, die sich bis dahin wie die Jahreskreise eines Baumes kreisförmig um das Zentrum geschlungen hatten. Da wurde begradigt, eingeebnet, rationalisiert, solange Budget und Zeichenstifte reichten. Die Gründerzeit rasterte die neuen Stadtteile für die Zuzügler von Brigittenau über Favoriten bis Ottaking. Den Gebäuden wurden Höhen vorgeschrieben. Und noch ganz andere Dinge. Alle möglichen Generalregulierungspläne sollten schön in geordnete Bahnen kanalisieren, was akut über die Ufer zu treten drohte: die Stadt selbst und nebenbei auch ihre Flüsse.

Ihren natürlichen Verlauf sollten auch die Straßen nicht mehr nehmen. Die Planer erhoben die Direttissima zum Ideal des vor Effizienz triefenden Städtebaus. Und nebenbei zum Ausdruck großstädtischen Imponiergehabes. Dazu ersetzten stattliche Breiten die gewohnten Zurufdistanzen. Revolutionen wollten schließlich schnell niederschlagen werden, und Kugeln können auch nicht um die Ecken fliegen. Armeen mussten marschieren. Und alles, was sich auf den Straßen drehte und bewegte, schien schon am nächsten Tag noch Geschwindigkeit aufgenommen zu haben. Das Tempo des Wandels brauchte Auslauf und genügend Platz, doch spülte es auch etwas Wesentliches von den Straßen und aus den Städten: die Baukunst.

Die ökonomischen und ästhetischen Ansprüche an den Städtebau, die sah damals vor allem einer im ständigen Widerstreit: Der Wiener Camillo Sitte entwickelte so manche gestalterischen Prinzipien und städtebaulichen Ideen, die schon vor 130 Jahren belächelt und abgestempelt wurden – als verklärte, rückwärtsgewandte Nostalgie. Und das nicht nur von Zeitgenossen wie Otto Wagner. Doch zu Unrecht. „Jeder, der sich ernsthaft mit Sitte beschäftigt, sieht, wie aktuell seine Schriften heute noch sind“, sagt Klaus Semsroth, ehemaliger Dekan der Fakultät für Architektur und Raumplanung an der Technischen Universität Wien, der sich lange mit Sitte beschäftigt hat.

Stadtbilder. Camillo Sitte wurde 1843 in Wien geboren. Ein Universalist war er, der sich mit Kunstgewerbe und -theorie genauso wie mit Pädagogik und Städtebau beschäftigt hatte. Seinen Nachlass verwaltet das Institut für Städtebau an der Technischen Universität Wien. Heute sind seine Ideen akribisch aufgearbeitet, gut beforscht und neu eingeordnet: Zwölf Jahre lang wurde an einer Gesamtausgabe seiner Schriften gewerkt, kürzlich wurde sie mit dem sechsten Band abgeschlossen. Klaus Semsroth ist gemeinsam mit Michael Mönninger und Christiane C. Collins ihr Herausgeber.

„Sitte verspürte großes Unbehagen über den Städtebau des 19. Jahrhunderts, der großteils von Bau- und Vermessungsingenieuren betrieben wurde“, erzählt Semsroth. Die ökonomische Logik des „leidigen Baublocksystems“ lehnte Sitte ab, genauso wie das „mathematisch abgezirkelte Leben, in dem der Mensch förmlich selbst zur Maschine wird“ – so formuliert er es in seinem bekanntesten Werk, „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“. Es erschien erstmals 1889 und wird gerade auch dort übersetzt, wo die Städte zurzeit besonders gern und ungebremst wachsen: in China.

Einen Anspruch vermisste Sitte vor allem im Städtebau seiner Zeit: das „Malerische“. Damit meinte er auch die kleinteiligen, abwechslungsreichen Unregelmäßigkeiten in den Städten, die sich wie zufällig und organisch zu einem Gesamtbild komponieren. Wie man es auch heute noch gern auf Ansichtskarten druckt, die Touristen verschicken, nachdem sie sich im mittelalterlichen Altstadtlabyrinth verirrt haben. Straßen dürfen in diesem malerischen Idealbild auch tun, was ihnen spätestens die Gründerzeit ausgetrieben hat: sich krümmen, überraschend winden wie gute Filme kurz vor Schluss, die ihr Ende am Anfang noch nicht verraten. Straßen, die nicht visuell ungebremst in die unendliche Flucht führen, sondern sich Schritt für Schritt dramaturgisch erschließen. „Wenn man sich auf einer Straße bewegt, die ins Unendliche führt, fühlt man sich schnell verloren“, meint Semsroth. Auch andere wahrnehmungstheoretische und -psychologische Grundlagen hatte Sitte bereits vorausgenommen, ohne sie selbst noch wissenschaftlich benennen zu können, erklärt Stefan Kubin, der sich am Institut für Städtebau ebenso seit Längerem mit Camillo Sitte beschäftigt.

Spüren. Städte wie Venedig, Verona oder Modena nahm Sitte als Vorbilder für Stadträume, die man nicht nur vermessen und verwerten kann, sondern vor allem auch atmosphärisch spüren. „Der Gestaltung des öffentlichen Raumes wollte er wieder mehr Augenmerk schenken“, sagt Semsroth. So wie die Zimmer einer Wohnung betrachtete er auch die Räume draußen, samt der Notwendigkeit, sie zu gestalten, damit sich Menschen darin wohlfühlen. Der Mensch sollte der Maßstab sein, an dem sich der Städtebau orientiert. „Die Größenverhältnisse von Räumen beeinflussen ja das Verhalten der Menschen in den Städten“, sagt Semsroth. Auch dass die Kunstwerke „von den Straßen und Plätzen in die Kunstkäfige der Museen verschwunden sind“, hatte schon Sitte beklagt. Genauso, dass sich das „Volksleben“ von den öffentlichen Plätzen zurückzieht – wie auch bauliche Elemente, die seiner Meinung nach den Stadträumen guttun: Vorhöfe etwa, Freitreppen und Laubengänge.

Die Sehnsucht nach dem „Malerischen“ ist heute nicht kleiner als zu Sittes Zeiten. Trotzdem rollen die meisten Stadtentwicklungsgebiete zwischen Shanghai und Floridsdorf schnurgerade ganz ähnliche Ideen aus. Da überziehen neueste Technologien Plätze, Straßen und Städte mit Netzen, die nicht nur Verkehr und Energie strömen lassen, sondern vor allem auch Daten. „Smart Cities“ wollen die Städte, auch wie Wien, so gern sein, zum Teil auch, weil die großen Technologiekonzerne das so wollen. Städte, in denen sich alles systematisch und effizient verknüpft. Für Städtebauer eine gute Gelegenheit, noch einmal einzutauchen in die Welt von Sittes Prinzipien, in der der Mensch das wichtigste Messinstrument sein sollte. Und in der sinnliche Erfahrungen mehr zählen als das, was technische Sensoren liefern. Auch Klaus Semsroth erkennt in den Ideen Sittes viel Aktualität, wenn er auf den Städtebau der Gegenwart schaut. Denn vor lauter „smart“ bleibt oft die ästhetische und soziale Intelligenz der Stadtplanung auf der Strecke. Genauso wie die Gestaltung des Stadtraums, das, was heute wohl „Urban Design“ heißen würde.

Stadtmuster. Sitte betrachtete die historische Entwicklung des europäischen Städtebaus genau. Wenn man ihr weit zurückfolgt, sieht man, dass das Schachbrettmuster keine Erfindung der Gründerzeit oder der Bewohner Manhattans war. Schon die Römer rasterten mit Vorliebe und mit strenger Ordnung. Auch die barocke Logik der Macht und des kaiserlichen Willens setzte auf Geraden und strenge Geometrien.

Gesellschaftliche und politische Umbrüche haben diese Raster danach oft ziemlich durcheinandergewürfelt. Das Buch „The Morphology of the Times“ von Ton Hinse, Professor für Städtebau aus Delft, zeigt Beispiele, wie die Geschichte die Muster und Zeichnung der Stadtpläne überformt hat. In Sevilla zum Beispiel: gerastert unter den Römern, fragmentiert im Mittelalter, als die Mauren im Stadtplan ihre ganz eigene Logik eingezogen haben. Und die war geprägt von ihrer sozialen Struktur –den Clans –, die sich als kleinteiliges Gassenlabyrinth über die strenge Ordnung der Römer legte.

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