Vintage Industrial: Der Sinn fürs Grobe

(c) Beigestellt
  • Drucken

Zwischen Spinden und Nähmaschinenöl. Rund um industrielle Maloche und Industrieromantik: Ein Stil, der sich Vintage Industrial nennt.

(c) Richard Luerzer

Der Lack ist ab. Und Verputz kommt erst gar keiner mehr drauf. Das Leben, das harte vor allem, hat sich eingeritzt und -gekratzt in die Stühle, Tischplatten, in die Oberflächen. Jetzt wetzen die Gäste ihre Jeans darauf, wenn sie vegan essen und Craft Beer bestellen. Vor allem Lokale und Hotels holen sich gern Designer fürs Grobe, die Industrieleuchten, Stahlstühle, monochrome Fliesen, die ganz sicher (Zwinker!) einmal auch in aufgelassenen Schlachthöfen an der Wand klebten, fleißig zusammenkuratieren. Wände freilegen, glatte Flächen nur dort hinsetzen, wo’s gar nicht mehr anders geht, Rohre Rohre sein lassen: Im Lifestyle-Interior-Trend zwischen Vintage, Shabby Chic, Industrial und, wenn’s dann doch eher sauber, aufgeräumt statt roh und rostig zugeht, Industrial Chic, lassen sich engagierte Lokalaufsperrer gestalterisch derzeit am liebsten nieder. Und auch das eigene Zuhause, vor allem wenn es zur Decke hin geräumig ist, soll sich ja zurzeit verstärkt als zusammengeklaubte Flohmarkt-Industrie-Nostalgie-Wunderkammer präsentieren. Das Buch „Vintage Indus­trial Style“, von Misha de Potesdad mit Fotos von Patrice Pascal (erschienen im DVA Verlag) erzählt die passende Industriegeschichte sowie die entsprechenden Möbelstorys dazu.

(c) Beigestellt
(c) Random House GmbH, Muenchen

Tipp

Umnutzung. Das hätte sich die Industrie vor 150 Jahren auch nicht gedacht: Dass es einmal erstrebenswert werden könnte, in einer Fabrik zu wohnen, zu essen oder Freunde zu treffen. Denn Fabriken waren zu Beginn der Industrialisierung, und zum Teil sind sie es noch heute, lebensfeindliche, grobe, schmutzige und brutale Orte.
Sitzen war anfangs ohnehin kaum vorgesehen. Erst in den 1930er-Jahren wurden Sitzmöbel für Industriearbeiter entwickelt, die in der Gestaltung ansatzweise schon ergonomische Parameter berücksichtigten. Da konnten die Näherinnen an den Nähmaschinen zumindest die Höhe des Hockers einstellen. Und die ersten Stühle begannen sich auch zu drehen, Rückenlehnen sich anzupassen. Ästhetisch dominierte das Grobe. Und das darf heute, gerne auch mit sinnlicheren, verspielteren Stücken, in die Wohnzimmer, Lofts und Lokale einziehen. Selbst im Design der Dinge kehren die technischen Geräte wieder ihre Funktionen visuell nach außen. Ähnlich wie zu Beginn der Industrialisierung, als die Ingenieure vornehmlich auch die Gestalter waren. Heute greifen die Designer bewusst zur Ingenieursästhetik, auch um ein bisschen die retro-futuristische Welt rund um Jules Verne zu beschwören. Auch deshalb sehen Kommoden zum Teil jetzt so aus, als hätte man sie aus der berühmten Nautilus von Kapitän Nemo herausgeschnitten.

Der Technik darf man die Technik wieder ansehen. Den Häusern die Rohre, durch die das Abwasser fließt. Und durch die Abluft zieht. Zahnräder will man sich wieder drehen sehen. Pendel sollen pendeln. Und Schwarz, am liebsten matt, soll den Wohnraum so geheimnisvoll tünchen wie die berühmte Insel von Jules Verne. Schließlich kommen ja Fabriksbewohner selbst kaum mehr mit verrußten Gesichtern nach Hause. Eher mit Milchbart vom letzten Kreativ-Latte-Macchiato-Meeting.

Vielleicht auch, weil sie den Kaffee im Wiener Café Menta getrunken haben, am Radetzkyplatz im dritten Wiener Bezirk. Dort hat das Innendesign-Duo Robin Molenaar und Yvonne Krisch den industriellen Anstrich innen aufgelegt und gleichzeitig rohen Vintage-Charme freigelegt, die alten Wände nämlich. Um vor allem eines hereinzulassen, bevor die ersten Gäste kamen, „Gelassenheit und Entspanntheit“, wie die Inhaberin Selda Gürsesli meint. Zum Glück passt die Einrichtung im „industriellen Stil der 50er“ wie zufällig farblich auch zu Gürseslis Lieblingskraut, Menta eben. Auch ein paar Steinwürfe über den Donaukanal entfernt, auf dem Campus der Wirtschaftsuniversität Wien, überzieht der Vintage-Industrial-Stil ein Gastronomiekonzept. Das Campus heißt das Lokal, das sich mit kulinarischer Bandbreite von Flammkuchen bis Burger und gestalterischem Spektrum von indischen Möbeln bis zu englischen Lampen ausgerüstet hat. Auch das Burgring 1 am Ring oder die zuletzt eröffnete Swing-Kitchen in der Wiener Schottenfeldgasse sind aktuelle Kandidaten für die Annahme, gefälligerweise im gestalterischen Trendkonsens nach Vintage-Industrial-Versatzstücken gefischt zu haben.

„Vintage Industrial Style. Loftiges Wohnen mit Designikonen und Flohmarktfunden“. Früher saßen die Näherinnen auf den Hockern zwölf Stunden am Tag. Heute sitzt man zweimal die Woche im eigenen Loft darauf: Die Industriemöbel, die früher dem Zweck, später auch der Ergonomie dienten, sorgen nun für leicht verklärten Industriecharme zu Hause. Erschienen im DVA Verlag.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.