Niederlande: Im Flachen Berge versetzen

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In den Niederlanden lassen die Architekten ihre Häuser wirken: auf die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Gesundheit – und das Glücksgefühl.

Die Gravitation ist längst nicht die einzige Kraft, die Architekten zähmen müssen. Etliche andere zerren und ziehen in alle Richtungen. Schließlich neigen bei Bauprojekten auch die unterschiedlichsten Interessenlagen dazu, sich gut einzuzementieren. Doch in den Niederlanden hat Beweglichkeit nicht erst seit der Erfindung von Wohnwagen und Fahrradstreifen Priorität: vor allem, wenn letztendlich alle etwas davon haben. „Hier hat sich eine konsensorientierte Kultur der Kommunikation entwickelt“, sagt Mathias Lehner, einer, der es anders meist nur noch aus der Ferne erlebt, wie etwa in seiner Heimat Österreich. Jetzt managt Lehner das Internationale Programm im Royal Institute of Dutch Architects (dem Bond van Nederlandse Architecten, BNA), das bemüht ist, etwas von dieser Gesprächs- und Planungskultur samt Fachexpertise auch in die Welt zu exportieren. „Man hat einfach begriffen, dass sich durch konsequente Kommunikation in der Planung mehr Qualitäten für das Gemeinwohl erzielen lassen“, sagt Lehner. Eine Einsicht, die auch daher rührt, wie er meint, dass der Opponent traditionell für alle derselbe ist. Schließlich muss man beim Nachbarn im Garten auch nicht allzu tief graben, um auf Wasser zu stoßen. Dämme und Deiche schützen alle gemeinsam. Mit Gleichheit haben die Niederländer kein Problem. Zumindest in der Architektur des Alltags, ihrer Fassade. Auch darauf haben sie sich in den vergangenen Jahrzehnten stumm einigen können: 60 Prozent von ihnen leben in Abziehbildern eines Wohnmusters, dem Reihenhaus. Die gleichförmigen Backsteinzeilen sind die Wohn-DNA-Ketten des Landes.

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Ganzheitlich gedacht. Mathias Lehner kam zunächst zum Gedenkdienst im Anne-Frank- Haus nach Amsterdam, später nach Delft, um dort an der Technischen Universität Architektur zu studieren. Schließlich blieb er in Amsterdam, arbeitet dort als Architekt und Konsulent, seit 2011 leitet er die internationale Abteilung des BNA. Im Ausland wollen die Architekten spürbar machen, was in den Niederlanden schon in etlichen Projekten greifbar ist: „The Power of Architecture“, so nennt sich das entsprechende Manifest der BNA dazu. Im Untertitel heißt es: „The Dutch approach“. Also der niederländische Zugang, den die Protagonisten der Architekturszene gern so legen: Kräfte bündeln, Kompetenzen und Expertisen holistisch verknoten. „Die Qualtität der integralen Planung zeichnet niederländische Architektur aus“, meint Lehner. Planerischer Intelligenz traut man so einiges zu in den Niederlanden: „Man glaubt einfach an die Machbarkeit der Projekte.“ Dem Meer und dem Wasser hat man schon einen Lebensraum für 16 Millionen Menschen abgerungen – viel komplexer kann die Herausforderung auch nicht mehr werden. Ein unwirtliches Stromdelta wurde zu einer gesellschaftlich liberalen Handels- und Wirtschaftsmacht, an der die Planungs- und Architekturkultur nicht ganz unbeteiligt war.

In den Niederlanden sind sich die Schöpfer und Nutzer der Architektur bewusst: Häuser wirken. Auch auf das Glücksgefühl, spekuliert das Imagevideo der BNA: Schließlich gehört das Land zu den glücklichsten der Welt. Das leistbare Reihenhaus mit großen Panoramafenstern allein kann’s nicht gewesen sein. „Im Verhaltenscodex der Architekten ist auch die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft festgeschrieben“, erzählt Lehner. Fest steht: In guter Architektur lernen Kinder besser und werden Kranke schneller gesund, Studien würden das bestätigen, erzählt Lehner. Auch dafür bündeln etwa die Dutch Health Architects Kräfte und Kompetenzen: Zu Hause sind die zwei größten Büros auf dem Feld der Gesundheitsarchitektur Konkurrenten, außerhalb der Niederlande kooperieren sie.

Mit dem Thema Wasser nehmen es die Planer der Niederlande ohnehin gern auf. Vor allem dort, wo Bedrohungsszenarien entschärft werden sollen. In den USA sucht etwa das Projekt Rebuild by Design nach den verheerenden Hurrikanen Katrina und Sandy nach langfristigen Lösungen. Das niederländische Büro West 8 tüftelt mit daran, wie Landschaftsarchitektur Küsten schützen und gleichzeitig als Erholungsraum aufwerten können. „Es gibt eine Reihe großer niederländischer Büros, die professionelle Auftraggeber durch schwierige Prozesse lotsen. Vor allem auch bei Infrastrukturprojekten“, berichtet Lehner. Auch Büros wie etwa UN Studios, gegründet vom Architekten Ben van Berkel, stehen auf dieser Liste. Mit dem Entwurf der Erasmus-Brücke in Rotterdam hat van Berkel bereits in den 1990er-Jahren seine Signatur hinterlassen. Jetzt plant er auch Flughäfen, U-Bahn-Systeme und Bahnhöfe, jenen in Arnheim beispielsweise. Projekte, die in manchen Ländern gern aus Zeit-, Budget- und anderen Rahmen fallen, in den Niederlanden geraten sie zum Gebäude des Jahres. Wie der neue Hauptbahnhof in Rotterdam vom Team CS, einer Kooperation von Benthem Crouwel Architekten, MVSA Meyer & Van Schooten Architekten sowie West 8.

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Spielwiese Rotterdam. Vor dem Areal der TU Delft wächst auch eine Stadt, oder eher ein Dorf, das Green Village, ein Labor für zukünftige, nachhaltige Gebäudekonzepte. Das erste Haus ist schon gebaut: wenig verwunderlich ein Reihenhaus. Doch es ist der Prototyp dafür, wie sich auch die restlichen 1,4 Millionen Exemplare des Landes energietechnisch aktualisieren lassen könnten. Schließlich wohnen die meisten Niederländer nicht nur auf ähnlichem Grundriss, sie verheizen so auch ungewollt einträchtig Energie. Für gestalterisch innovative Konzepte muss man schließlich auch aus den gleichförmigen Häuserzeilen in die Artenvielfalt der Städte abzweigen, am besten in jene, die die außergewöhnlichsten Spezies in den Himmel über der Maas wachsen lassen konnte. Schließlich hatte der Zweite Weltkrieg auch kaum etwas von ihr übrig gelassen: Rotterdam. Dort hinterlassen Büros wie MRVDV oder das berühmte OMA von Rem Koolhaas ihre Handschrift, die auch schon etliche asiatische Städte feiern, als wären sie ein Starautogramm auf der gebauten Umwelt. MVRDV, die aktuell auch in Wien ein Gebäude realisieren, stapelten Wohnungen und Luxusapartments zu einer riesigen Markthalle, aus der die bunte Vielfalt aus der bewusst grauen Hülle quietscht. Außen bewusst grau, innen bewusst farbenprächtig. Die Decke der Halle schmückt das größte Artwork der Niederlande: Auf 11.000 Quadratmetern purzeln Früchte, Blumen, Fisch und Brot aus dem künstlichen Himmel. So dreidimensional-realistisch, dass man sich vor den Riesenbananen fast ducken will. Architekt Winy Maas hat jahrelang dafür gekämpft, dass im vergangenen Oktober Königin Máxima doch das Bändchen bei der Eröffnung durchschneiden konnte. Auf der anderen Seite der Maas geriert sich ein Gebäude nicht nur architektonisch als Flaggschiff: Auch der Name De Rotterdam bezieht sich auf jenes, das in früheren Zeiten tausende Menschen nach New York übersetzte. Das De Rotterdam der Gegenwart bemüht den bemühten Begriff der vertikalen Stadt, die sich 150 Meter nach oben reckt. Aber zu wuchtig und voluminös, um nur als drei Türme zu gelten. Gleich neben der Erasmus-Brücke haben Rem Koolhaas und sein Büro OMA 160.000 Quadratmeter Geschoßfläche übereinandergeschichtet.

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Stilmix. Gemischt, das ist auch das Hotel in Zaandam, das Wilfried van Winden und das Büro WAM Architekten entworfen haben. Allerdings nicht im Nutzungskonzept – hier wird genächtigt und fertig. Fusionsarchitektur nennt van Winden das, was er da zu einem scheinbaren Häuserhaufen gestapelt hat: Traditionelle Häuser aus der Region hat er zum bunten Patchwork niederländischer Architekturzitate zusammengefügt. Nach unten, das war dafür die einzig mögliche Expansionsrichtung für eines der berühmtesten Museum der Niederlande: Das Mauritshuis in Den Haag, die königliche Gemäldegalerie, stammt aus dem Jahr 1644. Es war das Zuhause von Graf Johan Maurits von Nassau-Siegen. Heute ist es Heimat der Werke großer flämischer Meister. „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ von Jan Vermeer etwa hängt in den historischen Räumen. Den Anforderungen eines Museums war es schon seit Längerem nicht mehr gewachsen. Schließlich entschied man sich für die sanfte und genial unsichtbare Erweiterung. Der Architekt Hans van Heeswijk verlegte einfach den Eingangsbereich unter die Erde und dockte in seinem Entwurf von unten an das Haus gegenüber, das leer stand, an. So hat sich die Nutzfläche des Museums verdoppelt.

Die Reise des Autors wurde ermöglicht von der Netherlands Enterprise Agenc.

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