Möbelklassiker: Zeit für das Zeitlose

Künstler,  Architekt, Bühnenbildner: Friedrich Kiesler übersiedelte 1925 von Wien nach New York.
Künstler, Architekt, Bühnenbildner: Friedrich Kiesler übersiedelte 1925 von Wien nach New York.(c) Friedrich und Lilian Kiesler Stiftung Wien
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Möbelklassiker – reeditiert und aktualisiert: von Friedrich Kiesler bis Alvar Aalto.

Das zeitlose Design ist zu beneiden: Die Zeitachse, die in die Zukunft führt, lässt es einfach links liegen. Samt jenen unendlich vielen Momenten, an denen sich Moden, Zeitgeist und gesellschaftliche Stimmungen in der Geschichte der Gestaltung festgekrallt haben. Die größten Visionäre schicken Entwürfe in den Kosmos voraus, für die jeder Zeitpunkt der richtige zu sein scheint, sich irgendwann zu materialisieren. Visionär heißt nicht nur, die Zukunft vorwegzunehmen, sondern auch den Blick auf die eigene Arbeit radikal neu einzurichten. Viele haben schon die Zukunft gesehen, ohne es überhaupt zu wissen. Entwürfe, Dokumente, Pläne und Bilder großer Meister horten Archivare, Liebhaber und Wissenschaftler in Schubladen, Regalen, Stiftungen, Institutionen. Bis schließlich ihre Zeit gekommen ist. Und wann das genau sein könnte, das bestimmen oft genug die Möbelhersteller.



Auch wenn man die Ideen des Architekten und Künstlers Friedrich Kiesler betrachtet, glaubt man eher in die Gegenwart zu schauen und nicht unbedingt in die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Kieslers Pläne, Entwürfe und Projekte zeigen eine immanente Qualität, die jederzeit als aktuell gelten kann. Eine Eigenschaft, die das Design ähnlich wie die Literaturwissenschaft mit dem Begriff „Klassiker“ adelt. Das Interesse an Kiesler kommt in Wellen, sagt Gerd Zillner von der Friedrich-und-Lilian-Kiesler-Stiftung in Wien. Einmal sei es eher das Thema „Kiesler und das Ausstellungsdesign“. Dann wieder häuften sich die Anfragen zum Feld rund um „Kiesler und seine Designstrategien“, erzählt Zillner. Und gerade jetzt sind genau diese wieder gut nachgefragt. Natürlich auch aufgrund des Jubiläums, des 125. Geburtstags von Friedrich Kiesler, den man vergangene Woche gefeiert hat. Auch das schenkt Kiesler neue Aufmerksamkeit.

Von den Wittmann-Möbelwerkstätten hat er sie ohnehin seit jeher bekommen. Auch sie gehören zu den Stiftern der Privatstiftung. Im Archiv sind Heinz Hofer-Wittmann und Ulrike Wittmann ebenso regelmäßig zu Gast. Und zuletzt haben sie sich wieder einen Entwurf Kieslers ganz genau angesehen und sich schließlich dafür entschieden, ihn in die Kollektion aufzunehmen: den „Mergentime Chair“.

Aufgelegt. Dank Wittmann können auch die Besucher der Ausstellungen in der Kiesler-Stiftung rätseln, ob dort nun die Originale stehen oder doch die Neuauflagen. Und ob sie auch alle 18 Funktionen dechriffrieren können, die Kiesler etwa den „correalistischen Möbeln“ zugewiesen hat. Es waren die ersten Entwürfe, die Wittmann produzierte und so die Designideen Kieslers wieder erleb- und nutzbar machte. Kunstsammlerin Peggy Guggenheim hatte Kiesler ursprünglich für die Galerie Art of this Century mit der Gestaltung beauftragt. „Vielleicht ist es ein Möbel, das neben seinem sinnlichen auch einen intellektuellen Zugang braucht“, sagt Zillner. Der „Correalismus“ ist dabei der Theorieüberbau, der über der Entwurfsstrategie schwebt. „Dabei geht er nicht vom Gegenstand aus, sondern von den Life-Activities, den Lebensprozessen, die schließlich zu einem Objekt führen“, erklärt Zillner. Lebensprozesse generieren neue Bedürfnisse. Und diese generieren wiederum neue Entwürfe. „Was Kiesler auch auszeichnet, ist, dass er in der österreichischen Tradition der Funktionalismuskritik steht“, sagt Zillner.

Mit jenen Möbeln, die Kiesler für das Mergentime-Appartement entworfen hatte, nahm er ästhetisch und funktional viel vorweg, was heute Hersteller in ihren Werbeprospekten positiv ausloben: die Multifunktionalität etwa. Wie in den Modellen „Party Lounge“ und „Bedcouch“ aus der Wittmann-Kiesler-Kollektion. „Die Möglichkeit zur Umfunktionierung einer Couch zu einem Bett ist dabei bereits in den ersten Zeichnungen angelegt“, berichtet Gerd Zillner.

Und jetzt der „Mergentime Chair“: Mehr als sechs Originale hat es vermutlich nie gegeben, sagt Zillner. Zwei davon konnte die Familie Wittmann gemeinsam mit der Kiesler-Stiftung zuletzt bei einer Auktion in London ersteigern (im Wittmann-Schauraum stehen sich Original und Prototyp der Neuauflage noch bis Samstag, 3. Oktober, gegenüber). „Kiesler begann 1933 mit der Arbeit am Apartment Mergentime, einer Kollegin aus der Künstlervereinigung“, erzählt Zillner, „das dreibeinige Sitzmöbel war ursprünglich für den Esszimmertisch gedacht.“

Schatzpflege. Andere internationale Hersteller müssen Klassiker nicht erst mühsam aus alten Fotos, Plänen und Aufzeichnungen herausdestillieren, um sie den Menschen in die Häuser zu stellen. Bei Artek etwa stehen viele Stücke ohnehin seit fast 80 Jahren durchgehend in der Kollektion. Der finnische Hersteller ist inzwischen Teil von Vitra, und dort ist die Österreicherin Marianne Göbl auch dafür zuständig, dass der große Schatz des Großmeisters Alvar Aalto nicht unter einer Staubschicht an Glanz verliert. Zu diesem Zweck engagierte Artek auch die niederländische Designerin Hella Jongerius, die eine Reihe von Artek-Klassikern mit neuen Farben und Mustern überzog. „Man muss sich auch fragen, ob immer alles neu sein muss. Oder ob man nicht lieber versuchen will, eine Evolution fortzuführen, also Bestehendes neu zu interpretieren“, meint Marianne Göbl.

Schließlich würden sich auch bestimmte Wohnbedürfnisse und die Ansprüche nicht so schnell ändern, wie es die Möbelmarktdynamik oft suggeriert. Der Architekt und Designer Alvar Aalto hat jedenfalls nicht nur ein kostbares Portfolio an Entwürfen und Designprinzipien hinterlassen, sondern auch ein großes Identitätsreservoir, aus dem eine junge Nation schöpfen durfte. „Die Rolle von Aalto in Finnland ist außergewöhnlich. Eine junge Nation, sie wurde erst 1917 unabhängig, braucht eben Gründungsväter und Helden. Und Aalto war einer davon“, sagt Göbl.

Farbcodes. Auch Dänemark ist ziemlich beschäftigt mit dem Verehren der Designmeister früherer Jahre, ein Land, das gut bestückt ist mit dem Zeitlosen. Hans J. Wegner hat in den 1950er- und 1960er-Jahren so einiges geschaffen, was man undatiert auch in Zukunft stehen lassen kann. Der dänische Hersteller Carl Hansen reeditiert, reinterpretiert und aktualisiert klassische Entwürfe dänischer Designer. Wie etwa im Vorjahr, als ein Prototyp Wegners von 1955, der Stuhl „CH88“, endlich in Produktion ging. Und heuer widerfuhr ihm schon, was Klassikern oft erst nach Jahrzehnten widerfährt: Er wurde neu eingefärbt – oder zumindest Teile davon. Hans J. Wegner soll eine besondere Vorliebe für Orangerot gehabt haben, erzählt man sich. Andere Klassiker wie der berühmte „Wishbone Chair“, der „CH24“, sind zum 100-Jahr-Jubiläum von Carl Hansen in völlig neuem Erscheinungsbild wieder aufgetaucht: Mit Paul Smith und in Kooperation mit Maharam überzog man auch die Entwürfe des „Shell Chair“ oder des „Wing Chair“ mit schmäleren und breiteren farbigen Streifen.

Auch der deutsche Hersteller Thonet ist erblich und gestalterisch vorbelastet: mit einer Reihe von Klassikern, die sich in Wohn- und Einrichtungskonzepte einfügen, als gäbe es kein Morgen, aber auch kein Gestern. Das Einfärben von Klassikern gehört auch zum Programm: Zuletzt ist es dem wahrscheinlich ersten Freischwinger des Universums so ergangen: Mart Stams „S43“. Schon in den 1930er-Jahren soll Thonet allerdings die Stahlrohrgestelle lackiert haben, es ist also keine verzweifelte Idee des 21. Jahrhunderts. Bei der Farbpalette will man sich unter anderem an der Farblehre des Bauhauses orientiert haben, in einem Spektrum von Tomatenrot bis Senfgelb. Farben zumindest, die sich mit den Thonet-üblichen Oberflächen ästhetisch möglichst wenig reiben sollten.

Thonets Stuhl der Stühle, die ehemalige „Nr. 14“, die jetzt die „Nr. 214“ ist, vulgo ikonischer Kaffeehausstuhl, erfährt sanfte Erneuerungen: „Pure Materials“ heißt die Serie, in der Thonet erstmals auch Esche für seine Produktion verwendet.

Tipps

Friedrich Kiesler. Noch bis 3. 10. sind im Wittmann-Schauraum, Friedrichstraße 10, 1010 Wien, der Prototyp und das Original des „Mergentime Chair“ zu sehen. Ebenso lang läuft noch die Ausstellung „Kiesler and Bartos. The Shrine of the Book“ in der Kiesler-Stiftung, Mariahilfer Straße 1b.

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