Die unsichtbare Kraft der Form

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Auf dem Salone del Mobile in Mailand versuchten neue Möbel und Trends wieder einmal, möglichst hell aufzublitzen.

So ist das mit der Gravitation. Sie besteht nicht nur zwischen den Dingen, die Masse haben. Offensichtlich wirken auch zwischen den Massen von Menschen unsichtbare Kräfte. Wo viele sind, wollen noch mehr hin. Wo nix ist, bleibt oft auch nix. Menschen ziehen Menschen an. Und Möbel noch mehr Menschen. Wo Schlangen waren, werden sie länger. Wo Haufen waren, da häuft sich‘s noch mehr. Fast 350.000 Besucher schwirrten durch die Hallen, zehn Prozent mehr als die Jahre zuvor, vermelden stolz die Veranstalter des Salone del Mobile in Mailand, der Möbelmesse, die sich auch kaum kleiner geriert, als sie ist – tatsächlich die größte nämlich.



Die Messestände bereichern eine Stadt, die traditionell reich an außergewöhnlichen Räumen ist – von den alten Straßenbahnen bis zum Hauptbahnhof – mit einer Reihe grell inszenierter, übervoll möblierter Designsituationen. In ihnen verdichten Designer und Architekten Unternehmensphilosophien, Marketingstrategien und dann und wann sogar so etwas wie Visionen vom Wohnen der Zukunft. Die unzähligen Räume teilen sich ein Dach, das alle gemeinsam überspannt, jenes des Messegeländes. Dafür haben sie ziemlich viele Wände, und die brauchen sie auch, damit an ihnen die Euphorie der Besucher branden kann. Deshalb versuchen große italienische Hersteller von Minotti und Poltrona Frau über Poliform und Flexform bis Molteni mit demonstrativer Exklusivität die Begeisterung in Bahnen zu lenken. Absperrungen, VIP-Bereiche, Zugangskarten, strenge Blicke, Verhaltensregeln. So etwas wie ansatzweise Großraumdisco-Anmutung, dafür nicht provinziell. Cool herumstehen ist trotzdem angesagt.

Doch weniger für die Menschen, sondern eher für die Möbel. Aufgrund reizüberfluteter Netzhaut-Rezeptoren haken sich so etwas wie Trends nur zaghaft in die Augenwinkel. Und dann sind sie doch da und beinahe augenfällig, die Gemeinsamkeiten, die sich als Wellen schon in den letzten Jahren begonnen haben aufzubäumen – und nun sind sie beinahe so weit, dass sie schon wieder kippen könnten, in einen Haufen von Gegenteilen von all dem, was man heute so gestalterisch, formal und farblich aufblitzen sieht. Doch die anhaltende wirtschaftliche und gesellschaftliche Verwirrung allerorts – sie lässt die aktuellen wie gewohnten Design-Ingredienzien noch vor sich hinköcheln: das Handfeste, das Menschliche, das haptisch Spürbare, das Solide, gerne Hölzerne, gerne Bunte. Genauso wie das Einfache, das Nachvollziehbare, das leicht Verständliche. Aber auch das Weiche, das Gemischte, das Uneinheitliche, das Kontrastreiche – Oberflächen mit Tiefe, Klassisch-Elegantes mit Ironie.

Die Welt ist schlecht. Nur zuhause nicht. Die Möbel sind dafür die Wohlfühl-Kompagnons in gesellschaftlich trüben Tagen, sie werden zur beiläufigen analogen Verankerung im Überdigitalisierten. Die Farben und Texturen der Möbel fungieren als letzte Wohlfühlseufzer. Und wenn schon alles so unsicher ist wie der eigene Geschmack, dann beschwört man, was bereits in der Endlosschleife seine Kreise zieht: die eleganten Klassiker, die das Zeitlos-Sein zum Zeichen der Zeit gemacht haben. Kommerziell erfolgreich sind sie, solange die Möbelhersteller geschickt nach ihnen im kollektiven Gedächtnis der guten Gestaltung kramen, wie etwa der Hersteller Molteni nach einem weiteren Entwurf von Gio Ponti. Zwischen den riesigen Möbelkonzernen mit ihren verschiedenen Brands halten sich auch die familiengeführten in schwierigen Zeiten wacker, wie etwa auch die österreichische Möbelmanufaktur Wittmann, die sich durch die aktuelle Kooperation mit dem spanischen Designer Jaime Hayon auf ihre internationale Reputation noch etwas drauflegen durfte. Gar nicht so einfach, sich im Gerangel um Aufmerksamkeit ins Blickfeld zu quetschen, um nicht im toten Winkel der Möbeleuphorie zu stehen.

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