Michele De Lucchi: „Ich baue nicht für die Ewigkeit“

Maestro. Architekt Michele De Lucchi war einer der Designer der  Memphis-Gruppe.
Maestro. Architekt Michele De Lucchi war einer der Designer der Memphis-Gruppe.(c) Giovanni Gastel
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Der italienische Architekt Michele De Lucchi war Memphis-Mitglied und Georgiens Nationalplaner: über zeitgemäßes Bauen und italienische Tradition.

Wer die beste Fantasie hat, der hat auch den größten Genuss: Diesem Ausspruch Theodor Fontanes könnte man anfügen, dass die Fantasie aber angeregt werden will, gleich ob durch Literatur, Musik, ein Kunstwerk. Oder durch Architektur. Der Mailänder UniCredit-Pavillon ist solch ein inspirierendes Gebäude. Für seinen Entwerfer, den Stararchitekten und Designer Michele De Lucchi, hat der Pavillon etwas von einem gigantischen Samen, der wie ein Bindeglied zwischen den Glas- und Stahlwolkenkratzern um die Piazza Gae Aulenti und dem angrenzenden Park ruht. Andere erinnert der von Holzrippen umwundene Bau wiederum an einen gestrandeten Riesenkäfer oder – bei geöffneten Seitenflügeln – an eine Biene, die zum Weiterflug ansetzt. Auch das barrierefreie Innere des Pavillons befördert fantastische Bilder: Wer die Geschichte von Pinocchio kennt, kommt nicht umhin, an die Szene zu denken, in der die Holzmarionette im Bauch eines Walfischs landet. Doch von den Assoziationen einmal abgesehen, hat sich der Pavillon in seinen ersten zwölf Monaten als einer der belebtesten und beliebtesten Mailänder Kulturzentren etabliert. Hier werden Konzerte, Vorlesungen, Festivals und Ausstellungen veranstaltet.

Natürlich. De Lucchis UniCredit-Pavillon in Mailand wirkt als Bindeglied zwischen Natur und Stadt.
Natürlich. De Lucchis UniCredit-Pavillon in Mailand wirkt als Bindeglied zwischen Natur und Stadt.(c) Beigestellt

Michele De Lucchi zählt zu den Maestri der italienischen Architektur- und Designszene. In den 1970er-Jahren gehörte er, zusammen mit Ettore Sottsass und Alessandro Mendini – um nur die Bekanntesten zu nennen – zu den Verfechtern der Architettura radicale und zu den Designern der Memphis-Gruppe. Von ihm stammt die „Tolomeo“-Lampe (1983), die bis heute als die weltweit meistverkaufte gilt, und der berühmte Memphis-Stuhl „First“ (1987). Das „Schaufenster“ traf De Lucchi in seinem Mailänder Studio. Von dort aus scheinen die Wolkenkratzer des Porta-Nuova-Viertels zum Greifen nahe.

Seit der Architettura radicale und ihrem radikalen Architekturverständnis ist ein halbes Jahrhundert verstrichen. Was ist davon geblieben?
Sie bleibt trotzdem gegenwärtig. Es ist für mich ein großes Glück, jene Zeit erlebt zu haben: Damals waren Konzeptkunst, die Studentenbewegung und ständiges Hinterfragen angesagt. Und wir Architekten dachten intensiv über die Rolle der Architektur in der Gesellschaft nach. Bei der Architektur geht es nämlich nicht nur um technische Errungenschaften, sondern auch um Zeitgeist und eben die Gesellschaft. Und genauso wie damals habe ich mir diese Frage auch beim UniCredit-Pavillon gestellt. Wir leben in einer Zeit, in der Nachhaltigkeit zunehmend zum gesellschaftlichen Bewusstsein gehört. Daher meine Vorliebe für Materialien wie Holz, Stahl und Glas, die schön altern. Schließlich gab es beim UniCredit-Pavillon noch eine anregende Tatsache: Das Gebäude besitzt keine Fundamente, ruht stattdessen auf einem Belvedere, unter dem eine Unterführung läuft. Das erspart einen weiteren Eingriff in den Boden und dessen Verbrauch – denn wenn wir weiter bauen wie bisher, ist er irgendwann aufgebraucht. Außerdem leben wir in einer Zeit, in der sich alles rasant ändert. Ich baue also nicht für die Ewigkeit, das wäre nicht zeitgemäß. Ein Architekt entwirft nicht nur Gebäude, sondern er beeinflusst auch das Benehmen der Menschen in den von ihm geschaffenen Räumlichkeiten.

Ursprung. Der „Padiglione Zero“ von De Lucchi war der Einführungspavillon auf der Mailänder Expo 2015.
Ursprung. Der „Padiglione Zero“ von De Lucchi war der Einführungspavillon auf der Mailänder Expo 2015.(c) Tom Vack


In Georgien haben Sie neun große Bauten entworfen, darunter die Friedensbrücke in Tiflis. Dafür haben Sie sogar den georgischen Pass bekommen. Wie war es, in einem Land zu bauen, das Ihnen fremd war?
Es war sehr interessant. Man erwartete von mir Projekte, die dem Land eine Identität verschaffen und einen klaren Schnitt zur kommunistischen Ära darstellen sollten. Gebäude, mit denen man sich identifizieren und auf die man stolz sein wollte. Die Idee war sehr anregend, aber auch sehr anspruchsvoll. Die Friedensbrücke wurde von der Bevölkerung zum Symbol der Hauptstadt deklariert und ist so beliebt, dass ihr kein politischer Wechsel etwas anhaben kann.


Zu Ihren bekanntesten Designobjekten gehören die Lampe „Tolomeo“ aus dem Jahr 1987 für Artemide und der Stuhl „First“, Baujahr 1983, für die Memphis-Gruppe. Heute beklagen Sie, dass immer weniger Unternehmen und Gestalter den Mut haben zu experimentieren – Sie haben einmal gesagt, man könne „nur lernen, wenn man keine Angst vor Fehlern hat und weiß, dass Fehler der Fortentwicklung dienen“.
Familienunternehmen, begnadete Unternehmer gibt es immer seltener. Ich denke da an Adriano Olivetti und an Giulio Castelli von Kartell. Die Beziehung zwischen solchen Persönlichkeiten und den Architekten und Designern war sehr persönlich und eng. Ich habe das Glück, auch heute noch mit Firmeninhabern wie Ernesto Gismondi von Artemide oder Alberto Alessi zusammenzuarbeiten. Die Kaffeemaschine „Pulcina“ ist bei Alessi im Moment mein größter Erfolg. Keine Marketingabteilung hätte dieses Konzept und diese symbolische Form gutgeheißen – aber siehe da, das „Küken“ ist zum Verkaufsschlager geworden.

Urkraft. De Lucchi inszenierte die „Pietà Rondanini“, Michelangelos letztes Werk, im Castello Sforzesco.
Urkraft. De Lucchi inszenierte die „Pietà Rondanini“, Michelangelos letztes Werk, im Castello Sforzesco. (c) Beigestellt


Nach der Auflösung der Memphis-Gruppe im Jahr 1987 gründeten Sie 1990 Produzione Privata.
Das ist mein eigenes kleines Unternehmen – mehr ein Labor, in dem ich meine Experimente und Forschungen zum Thema Licht und Glas für Liebhaber eines handgefertigten Designs im privaten Wohnbereich durchführe. Für mich war es die natürliche Fortsetzung von Memphis. Meine Entwürfe realisiere ich mit italienischen Handwerkern, die stark forschungsorientiert sind. Ohne diese kreativen Handwerker hätte es keine Architettura radicale und kein Memphis gegeben; ein Großteil der erfolgreichen Designprodukte der 1960er-, 70er- und 80er-Jahre wäre ohne sie undenkbar. Dies unterscheidet das italienische Handwerk zum Beispiel vom japanischen oder französischen, bei dem es vorrangig um Kunstfertigkeit geht. Ich selbst habe etwa mit Hermès, Baccarat und der Porzellanmanufaktur in Sèvres zusammengearbeitet, einmalig.


Verfolgen Sie eine eigene Philosophie?
Ich würde es so sagen: Mir geht es weder darum, ausschließlich die Tradition zu bewahren, noch bedingungsloser Sklave des Fortschritts zu sein. In meinen Entwürfen versuche ich etwas zu schaffen, das Verbindungen zu Geschichte und Kultur aufnimmt, genauso wie zur modernen Technik und dem Zeitgeist.


Ist Mailand noch immer die Hauptstadt des Designs?
Ja, das ist es. Mailand ist der Knotenpunkt schlechthin. Hier treffen Möbelindustrie, Designer, eine ausgeprägte Designkultur aufeinander – mit Museen, Stiftungen und Galerien und der aufregendsten internationalen Möbelmesse, dem Salone del Mobile. Und ich denke, das wird noch für einige Zeit so bleiben.

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