Russland: Birkenbrot und Schwanenleber

Luftig. Im Danilovsky-Markt ist Milch genauso Thema wie Gemüse.
Luftig. Im Danilovsky-Markt ist Milch genauso Thema wie Gemüse.(c) Anna Burghardt
  • Drucken

Die neue russische Küche erzählt Geschichten von Patriarchentafeln, Wodkawaschungen und Sanddorn. Ein Streifzug durch die Restaurants und Märkte Moskaus zeigt aber auch: Regionalität ist in Russland relativ.

Am einzigen Stand, an dem die Frauen Kopftücher tragen, geht es modisch zu. Die mit Fleisch und Estragon gefüllten kleinen Teigtaschen namens Kurze kokettieren mit einem geflochtenen Seitenzopf. Die größeren Teigtaschen, Chudu genannt, erinnern an Clutches, deren Leder mit der Zackenschere zugeschnitten wurde. Der hübsch designte Stand auf dem Danilovsky-Markt präsentiert ein Halal-Zertifikat und nennt sich schlicht „Dagestan“. Also wie die Republik im Süden Russlands, deren Bewohner zu über 90 Prozent muslimisch sind und deren Volksküche man hier, in diesem schicken Indoor-Markt für Besserverdienende, anbietet. Der Zuspruch der Kunden ist groß. Es duftet nach flüssiger Butter, mit der das warme gefüllte Gebäck bestrichen wird, nach säuerlicher Estragonsuppe, geschmolzenem Käse und gebratenem Lammfleisch.

Vielfalt. Auch vietnamesische Nudelsuppen, Sushi oder quietschbunte Cupcakes gibt es hier, wo die Kundinnen weniger schönheitsoperiert sind als anderswo in Moskau und der Anteil an Kinderwagen schiebenden jungen Männern mit getrimmtem Vollbart erstaunlich hoch ist. Man sollte diese Gastrostände, die allesamt an der Außenflanke des rund angelegten Markts zu finden sind, aber vielleicht lieber auslassen. Um dafür Dagestans Spezialitäten kennenzulernen oder den armenischen Granatapfelsaft-Presser zu besuchen. Oder die georgischen Gemüse-und-Kräuter-Stände – stets an den Flaschen mit Tkemali-Ringlottensauce und „Borjomi“-Mineralwasser zu erkennen – und das Fass mit Kwass, aus dem eine junge Frau das leicht moussierende Getränk aus vergorenem Brot in Plastikbecher abzapft.

Der Danilovsky-Markt nahe der Metro-Station Tulskaya ist eine jener Adressen in Moskau, die sich der Wiederentdeckung kulinarischer Traditionen verschrieben haben und sich damit an ein gut verdienendes, gebildetes Publikum richten. Trockenfisch, fermentiertes Gemüse, geräucherter Käse oder typisch usbekische Keramik werden hier in entstaubter Form unter der architektonisch auffälligen, offenen Kuppel inszeniert. Die Standler tragen einheitliche Schürzen mit Logo und Lederträgern. Lokale (das ist in diesem Riesenland freilich relativ) Lebensmittelinitiativen mit Honig oder Pilzen sind ebenso vertreten wie ein Stand, der hochpreisiges Dry Aged Beef aus der Region Krasnodar verkauft, oder ein anderer mit Ricotta und Burrata aus russischer Produktion. Wie der Einfuhrstopp für westliche Lebensmittel, als Antwort auf die EU-Sanktionen von Wladimir Putin bis Ende 2018 verlängert, sich auf Russlands Kulinarik auswirkt, ist hier genauso zu beobachten wie in den ambitionierten Lokalen Moskaus.

Umdenken. „Wir haben nach der Verhängung des EU-Import-Embargos innerhalb von einer Woche die Speisekarte komplett umstellen müssen“, sagt etwa Yoann Bernard, der französische Küchenchef des Ritz-Carlton, das als Luxushotel zuvor ein großer Abnehmer von französischer Gänseleber, italienischem Käse oder US-Beef war. „Wir sind auf Lieferanten aus Südamerika und von den Philippinen ausgewichen, haben mehr mit Gemüse gekocht und mussten uns nach heimischen Fleisch- und Milchproduzenten umsehen. Deren Qualität ist mittlerweile beachtlich, wir haben in Russland nun eigenes Dry Aged Beef, machen russischen Mozzarella.“

Gerade der Engpass an westlichen Lebensmitteln war schließlich der Motor für viele Entwicklungen in der russischen Landwirtschaft und Gastronomie. „Die Leute konzentrieren sich seit den Sanktionen mehr auf sich und ihr eigenes Erbe, es gibt coole Konzepte, es tut sich hier wirklich etwas“, sagt der Österreicher Leonard Cernko, der selbst besonders gern auf den Danilovsky-Markt geht. Cernko war einst Mörwald-Schüler und Drei-Hauben-Koch, heute führt er das Hotel Ritz-Carlton gleich beim Kreml. Von dessen Terrasse hat man den vermutlich beachtlichsten Ausblick der Stadt: schnurgerade zum Roten Platz samt Basilius-Kathedrale. Seit heuer ist hier oben auch ein Food Truck aufgestellt, der unter anderem Burger mit Kamtschatka-Krabbe bietet.
Ebendiese Krabbe ist nun jenes Lebensmittel, bei dem der Begriff „regionales Produkt“ leicht absurd wird. So manches Moskauer Restaurant setzt heute motiviert die „regionale Kamtschatka-Krabbe“ auf die Karte – also ein Produkt, das aus bis zu 6500 Kilometern Entfernung stammt. Das entspricht etwa der Strecke Wien–New York.

Neue russische Küche. Mit solchen Spitzfindigkeiten sollte man Köchen wie Vladimir Mukhin nicht kommen. Er ist vielleicht derjenige, der von der jüngsten Rückbesinnung auf russische Küche am meisten profitiert. Unter dem Schlagwort „Neue russische Küche“ wird der Mittdreißiger international herumgereicht. Er erzählt, dass er versucht, drei Tage pro Woche durch Russland zu reisen (angesichts seiner vielen Verpflichtungen dürfte es beim Versuch bleiben) und immer im billigsten Lokal zu essen, denn nur dort bekomme man „die Essenz einer Region“.

Auch in der Netflix-Serie „Chef’s Table“ war Mukhin zu sehen. Sein Aushängeschild, das Restaurant White Rabbit, liegt im 16. Stock des noblen Einkaufszentrums Smolensky Passage und ist etwas umständlich über drei Aufzüge zu erreichen. An den Wänden der Bar hängen Bilder, die eine Art weißes Kaninchen aus „Alice im Wunderland“ in Verkleidung zeigen. Der Gastraum in der Glaskuppel ermöglicht einen beachtlichen Rundumblick, etwa auf die nahe Moskwa oder das Außenministerium mit seinen absurden, aber Moskau-typischen Ausmaßen: Dieses Gebäude ist eine der „Sieben Schwestern“ – sieben gewaltige Hochhausburgen, die im sogenannten stalinistischen Zuckerbäckerstil erbaut wurden und auch als Stalins Kathedralen bezeichnet werden.

Die Speisekarte des White Rabbit ist wahrlich ausufernd. („In Moskau braucht man es nicht mit dem Fine-Dining-Konzept ,Ein Menü für den ganzen Tisch‘ zu versuchen“, sagt dazu der österreichische Ritz-Direktor Leonard Cernko. „Die reichen Moskauer wollen bestellen können, wie und was sie wollen.“) Neben vielen À-la-Carte-Gerichten ist im White Rabbit auch Vladimir Mukhins kleinteiliges Menü zu haben, mit jenen neorussischen Gerichten, mit denen er berühmt geworden ist. Mit einem Preis von umgerechnet rund 120 Euro ist es längst nicht so teuer, wie man es an der angesagtesten Gastroadresse Moskaus erwartet hätte.

Borodinsky und Forshmak. Mukhins „Tasting Set“ ist eine gewitzte und liebevoll arrangierte Erzählung russischer Essensgeschichte. Ein narratives Menü, das von früheren Zeiten berichten will und sich dafür unter anderem auf den „Domostroi“, ein Regelwerk für religiöses und familiäres Verhalten aus dem 16. Jahrhundert, beruft. Zu Beginn wird den Gästen Wodka in die Hand geträufelt; man wird aufgefordert, die Hände zu reiben und daran zu riechen – und schon verfliegen etwaige Desinfektionsgedanken. „Früher konnte kaum jemand lesen“, erklärt eine blutjunge Kellnerin in mäßig verständlichem Englisch, „auf diese Art hat man überprüft, ob der Wodka aus Erdäpfeln oder Getreide gemacht war.“ Winzige, geschichtete Sandwiches aus hauchdünnem Borodinsky-Roggenmalzbrot und Butter werden mit Belugakaviar und einem Kaffee aus geröstetem Getreide serviert – das Zitat eines Arme-Leute-Imbisses, die Störeier ersetzen das nahrhafte Enten- oder Gänseei. Aus Schtschi, der klassischen hellen Krautsuppe, wird im White Rabbit ein Destillat, mit diesem wiederum macht man Aspik. Schwanenleber aus der Wolga-Stadt Astrachan nahe dem Kaspischen Meer (Entfernung zu Moskau: 1400 Kilometer) kommt hier ebenso zum Einsatz wie geräucherter Hering, Maulbeeren, Malz und Elchzungen – alles in ganz neuer Form. Sterlet, eine kleine Störart, wird mit gesäuertem Getreide und Krustentiersauce kombiniert: ein Gericht, das sich auf Patriarchentafeln bezieht. Ein winziges Brot aus gemahlener Birkenrinde, zerstoßenen Birkenblättern und Birkensaft versteckt man im White Rabbit in einer rustikalen kleinen Dose aus verzierter Birkenrinde – „wir wollen die Bedeutung der Birke für die russische Seele zeigen“. Und dazu serviert man Heringsmilchner und Forshmak. Letzteres ist ein Aufstrich aus der jüdischen osteuropäischen Küche (auf Jiddisch Vorschmack) aus Hering, Ei, Äpfeln und Zwiebeln.

Ebenfalls um die Kochtraditionen des riesigen Landes geht es im Restaurant Selfie, das wie etwa das Bistro Tehnikum zur White Rabbit Group gehört. Als ob man den Standort danach ausgesucht hätte, hat man auch vom Selfie aus eine der „Sieben Schwestern“ im Visier: das Wohnhaus am Kudrinskaja-Platz, heute eine noble Adresse mit 450 Apartments. Im Selfie tragen die Köche in der einsehbaren Küche Hüte, auf den gepolsterten Stühlen räkeln sich Frauen mit Körperteilen unterschiedlichen Alters und werfen suchende Blicke über dicken Schmollmündern in die Gegend. Die Karte listet Kalbszunge mit Morcheln, roh marinierte Forelle mit Heidelbeeren oder Sanddorn sour, ein Whisky-Drink mit dem sauren orangefarbenen Beerensaft statt Limette.

Vorliebe. Sauer – das ist ein Geschmack, an dem man auf Streifzügen durch Moskaus Kulinarik nicht vorbeikommt. Im prunkvollen Feinkostgeschäft Jelissejew in der zentralen Twerskaja-Straße findet man gerebelten Sanddorn ebenso wie Stachelbeeren im Tiefkühlregal. Im nahen Metropol, dem berühmtesten Hotel der Stadt, ist dem traditionellen sauer eingelegten Gemüse, etwa winzigen Patissonkürbissen oder warzigen kleinen Knackgurken, beim Frühstück ein eigener Tisch gewidmet. Auch das „Russian Set Menu“ im Savva, dem Fine-Dining-Restaurant des Metropol, zeigt, dass eine fein balancierte Säure meist dazugehört. Etwa bei der kalten Nationalsuppe Okroschka, die Chef Andrey Shmakov mit dünnen Streifen von Lammzunge und dem Brottrunk Kwass variiert, oder beim warmem Aal-Salat, der mit Frischkäsekroketten und einer säuerlichen Gurkensauce serviert wird. Und hier im Savva ist auch die selten gewordene russische Version von Ceviche zu finden: Suguday, ein sibirisches Gericht aus roh mariniertem Fisch, wird in einer Schüssel aus blankem Eis auf einem Silbertablett am Tisch finalisiert. Dazu: Kren-Wodka, selbst angesetzt.

Die Recherche der Autorin wurde zum Teil von den genannten Betrieben unterstützt.

Infos

Restaurants. Moskaus internationales Aushängeschild ist derzeit das White Rabbit, wo Vladimir Mukhin narrative neorussische Gerichte bietet. Vielgängiges Menü um umgerechnet etwa 120 Euro. Toller Ausblick vom 16. Stock auf die Moskwa und das Außenministerium im stalinistischen Zuckerbäckerstil, eines der Hochhäuser „Sieben Schwestern“. whiterabbitmoscow.ru/en

Ebenfalls empfehlenswert sind das Selfie (neben einer anderen der „Sieben Schwestern“, dem Wohnhaus am Kudrinskaja-Platz), das Bistro Tehnikum und das Nikkei-Lokal Chicha. selfiemoscow.ru, tehnikumbistro.ru, chicha.ru

Das Savva im Hotel Metropol bietet, anders als andere Hotelrestaurants, die meist international kochen, modernisierte russische Klassik. savvarest.ru­

Skandinavisch geprägt sind das Møs und das Björn. mosnordic.ru, bjrn.ru

Das 15 Kitchen Bar hat ein Gastkochkonzept.
15kitchenbar.ru

Die Novikov-Gruppe führt eine unüberschaubare Anzahl an Restaurants. Interessant: das Vysota 5642 mit seiner kaukasischen Küche. novikovgroup.ru

Märkte. Am interessantesten ist der hippe Danilov­sky-Markt: helle Kuppelhalle, Gastrostände etwa mit Spezialitäten aus Dagestan (Teigtaschen), Kwass-Ausschank (vergorener Brottrunk), georgische und usbekische Gemüse- und Geschirrstände. Metro: Tulskaya. In neuerem Ambiente zeigt sich auch der Usachevsky-Markt.

Wohnen.Das Metropol ist Moskaus legendärstes Hotel. Der gewaltige Jugendstilbau in unmittelbarer Nähe zu Kreml und Bolschoi-Theater ist eine Sehenswürdigkeit für sich. Die Frühstücks-Kuppelhalle ist berühmt, sehr empfehlenswert das Savva, siehe Restaurants. Neue Suiten mit Lomonosov-Porzellan, legendäre historische Zimmer. Zimmer ab ca. 140 Euro. metropol-moscow.ru

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.