Marokko: Fundgrube Fès

Verschachtelt. Blick von einem Park über Reste der Stadtmauer aus alawitischen Zeiten auf das Labyrinth der Medina.
Verschachtelt. Blick von einem Park über Reste der Stadtmauer aus alawitischen Zeiten auf das Labyrinth der Medina.(c) Robert B. Fishman, ecomedia (Robert B. Fishman)
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Ein Europäer verliert sich im Labyrinth der Altstadt von Fès, findet seine alten Freunde nicht mehr, dafür aber so tolerante wie tiefgläubige neue.

Frugal. Anwalt Philippe,  bestens in die muslimische Gesellschaft integrierter Jude, liebt vegetarische Küche.
Frugal. Anwalt Philippe, bestens in die muslimische Gesellschaft integrierter Jude, liebt vegetarische Küche. (c) Robert B. Fishman, ecomedia (Robert B. Fishman)
Aufregend. Fahrten mit den roten, nur von Rost und Farbe zusammengehaltenen Fiat-Uno-Taxis.
Aufregend. Fahrten mit den roten, nur von Rost und Farbe zusammengehaltenen Fiat-Uno-Taxis. (c) Robert B. Fishman, ecomedia (Robert B. Fishman)

In der Altstadt wirst du dich ohne einen Ortskundigen hoffnungslos verlaufen“, haben mich die Freunde gewarnt. Trotzdem versuche ich ihr Haus im Labyrinth der Medina von Fès allein wiederzufinden, steige Gassen hinauf und hinunter, haste über steile Treppen, zwänge mich zwischen Verkaufsständen hindurch, versuche mich an diese oder jene Ecke zu erinnern, an einen Mauervorsprung, einen Marktstand, ein Graffito oder an den Standort der historischen Wasseruhr aus dem 14. Jahrhundert, an deren Renovierung Experten seit mehr als zehn Jahren vergeblich arbeiten. Bis heute ist es niemandem gelungen, die Funktionsweise der alten Technik zu entschlüsseln und nachzubauen.

Handkarren und Lastesel Marokkos drittgrößte Stadt Fès beherbergt eine der größten arabischen Altstädte (Medina) der Welt – ein Labyrinth aus bis zu 1000 Jahre alten winzigen und schmalen Gassen auf rund sechs mal drei Kilometern. Einzige Verkehrs- und Transportmittel sind Handkarren und Lastesel, für Autos sind die Gassen zu schmal. Den Bewohnern und dem Staat fehlt das Geld für die Sanierung der baufälligen alten Häuser. Trotz Stützmauern und anderer impovisierter Rettungsversuche stürzen immer wieder Häuser ein. Die Fundamente ziehen Wasser, die Dächer werden undicht.

Die Schönheit der Altstadt erschließt sich freilich erst hinter den graubeigefarbenen Mauern der engen Gassen. Prachtvolle Innenhöfe, Riads genannt, verziert mit uralten Mosaiken, Brunnen und Holzschnitzereien erinnern an die Zeit, als Fès das geistige und religiöse Zentrum Marokkos war. Inzwischen kaufen viele reiche Marokkaner und Ausländer Häuser in der Altstadt, sanieren und bauen sie zu Hotels, Gästehäusern, Restaurants und Privatresidenzen um. All die Bilder, Gerüche und Töne der letzten Tage schwirren mir durch Kopf und Bauch: das Gespräch mit den beiden Gnaoua-Musikern, ihr sanfter, durchdringender Gesang, begleitet von einer Art Banjo, ihre Geschichten von Begegnungen mit Gott in der Musik, den spirituellen Liedern, aus denen sie Kraft und Hoffnung schöpfen. Die trancehaften Klänge der Gnaoua vermischen sich mit dem Hämmern der Kupferschmiede und dem beißenden Gestank der Gerbereien: In einem Meer von gemauerten Bottichen staksen hagere Gestalten durch braungelbe Brühen. Mit Taubenmist, Kalk und anderen Zutaten lösen sie in gebückter Haltung die Haare von Kuh- und Schafhäuten, um daraus nach vielen weiteren Arbeitsschritten samtweiche Taschen, Jacken und andere Lederwaren zu fertigen.

Aus einem Teppichladen strahlen die Handarbeiten der Berberfrauen aus den Dörfern des Atlasgebirges in Rot, Orange, Blau und Gelb heraus. Keine zwei Querstraßen weiter liegt der Gewürzmarkt, ein kleiner Platz um eine mächtige Platane: Henna, Koriander und die zahllosen anderen orientalischen Köstlichkeiten duften um die Wette. 

Duft nach Zedernholz. Wo ist der Schreiner Mustafa, der mir gestern voll Stolz gezeigt hat, wie er nach selbst gefertigten Zeichnungen alte, fein ziselierte bunte Türen, Fenster, Sideboards und andere Möbelstücke so originalgetreu restauriert, dass sie wieder so aussehen wie bei ihrer Erschaffung vor 300, 500 oder noch mehr Jahren? Während ich eben noch meine, den Duft des frisch gesägten Zedernholzes wiederzuerkennen, steigt mir der würzige Geruch von frisch gegrilltem Fleisch in die Nase. An der nächsten Ecke leuchten auf einem Holzkarren pralle rote Paradeiser neben frisch gepflückter Minze, die, gemischt mit grünem Tee und gefühlt kiloweise Zucker, das Nationalgetränk, den „marokkanischen Whisky“, ergibt.

Hier irgendwo muss der Schneider in seinem winzigen Atelier sitzen. Aus den Fäden, die Männer entlang den Mauern der Altstadthäuser spinnen, näht er Djellabahs, die traditionellen marokkanischen Gewänder mit ihren zipfelmützenartigen Kapuzen. Ist das Gebäude da unten die Medersa Attarine, die fast 1000 Jahre alte ehemalige islamische Universität, die ich hinter einem unscheinbaren alten Holztor vor ein paar Tagen eher zufällig entdeckt habe?

„Wasser“, hat Imad, ein Bekannter aus Rabat, mit dem ich vor ein paar Tagen hier unterwegs war, gesagt, „ist für uns ein Geschenk Gottes. Deshalb steht in jedem Innenhof ein Brunnen. Es ist heilig wie das Leben, eine Gabe Allahs.“

In Gebete versunken. Ich staune immer noch über den jungen, bärtigen Mann mit den wachen Augen: Betriebswirt, 29 Jahre jung, die Hände immer an seinem Smartphone, spielt er stundenlang, simst oder chattet auf Facebook. Währenddessen lässt er beiläufig Sätze los, die mich in eine andere Welt katapultieren. Sie beginnen mit „In unserer Religion“ und künden meist von einer Gläubigkeit, die tiefer reicht als die Brocken dogmatischen, bärtigen Beton-Islams, die wir in Europa in den Fernsehnachrichten sehen. Mit „Hamdala“ (Alhamdullilah), Gott sei Dank, beendet er jede seiner Aussagen, jede Mahlzeit. Und es klingt so, als meine er nicht einen strengen Gottvater, der uns das Denken abnimmt und alles so regelt, wie es die Verbohrten aller Religionen gern hätten, sondern ein wohlwollendes übersinnliches Wesen, das die Menschen auf ihren Wegen begleitet. In den Moscheen, die ich als Ungläubiger nicht betreten darf, sehe ich durch geöffnete Türen Gläubige, in Gebete versunken, entspannte Menschen mit zufriedener Miene.

Nicht nur der aufgekratzte jüdische Anwalt Philippe bestätigt meinen Eindruck, dass Toleranz und Glaube in Marokko zusammenfinden wie sonst in keinem anderen Land. Nach einem Gespräch in seiner Kanzlei lotst er mich zum Beweis seiner gelungenen Integration in die muslimische Gesellschaft gleich zum örtlichen Landgericht, wo ihn der Gerichtsdiener ebenso wie ein Kollege mit Wangenkuss empfängt. Durch ihre offenen Bürotüren grüßen Staatsanwalt und Richter freundlich heraus. „Wir sind Freunde.“

Philippes Stimme wird laut, als müsse er mich überzeugen. „Alle wissen, dass ich Jude bin“, versichert er und zeigt auf die Mesusot, die kleinen hölzernen Behältnisse für jüdische Schriftrollen an jeder Tür in seiner Kanzlei, und stellt mich seinen beiden Büroangestellten vor: Junge Frauen im traditionellen marokkanischen Kaftan, das Haar unter hellblauen, akkurat sitzenden Kopftüchern verborgen, lächeln mich freundlich wie schüchtern nickend an. Philippe wohnt in der von den Franzosen in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts entlang schnurgeraden Boulevards gebauten Neustadt.

Dorthin komme ich bequem und ohne große Orientierungsprobleme mit einem der fast nur noch von Rost und roter Farbe zusammengehaltenen „petit Taxis“. Wie Hummeln sausen die betagten Fiat Uno – viele von ihnen haben 700.000 und mehr Kilometer auf dem Tacho – durch die Straßen. Ein Wink genügt, schon hält der Fahrer, schon hat man Probleme. Die meisten Lenker sprechen nur Arabisch und können wenig mit meinem Französisch anfangen. Vom Hotel habe ich mir nach dieser Erfahrung eine arabisch bedruckte Visitenkarte geben lassen.

„Uns geht es gut hier.“
Der Taxifahrer, ein freundlicher  älterer Herr, blickt auf die Karte, schaut fragend auf und dann wieder auf die Karte, bis mir klar wird, dass er nicht lesen kann. Ich muss mir ein anderes Taxi suchen. Am Steuer sitzt entspannt und gut gelaunt ein junger Mann, der Französisch spricht.

„Uns geht es gut hier“, antwortet er auf meine Frage nach wirtschaftlichen Problemen und den vielen Jugendlichen, die in der Hoffnung auf ein vermeintlich besseres Leben versuchen, sich oft unter Lebensgefahr nach Europa durchzuschlagen. Nein, er bleibe hier wie alle seine Freunde. Einer seiner Bekannten sei nach Frankreich gegangen, aber bald  wieder zurückgekommen. „Wenn ich Geld brauche, fahre ich Taxi oder suche mir einen anderen Job, bis ich für eine Zeit genug verdient habe.“ Dann höre er auf und beginne erst wieder, wenn das Geld aus sei. „Wir Marokkaner“, sagt der 33-Jährige „denken nicht an morgen. Wir leben im Hier und Heute.“

Keine Eile. Am R’cif Tor, dem Eingang zur Altstadt, warte ich auf die Freunde, deren Haus ich nicht wiedergefunden habe. „Möchtest du etwas mit uns trinken?“, fragt der junge Mann hinter dem Grill und zeigt mit einer freundlichen Geste auf die leere Plastikstuhlreihe hinter sich, aus denen sich sein Café zusammensetzt. Seine Frage klingt eher nach einer Einladung als nach einem Verkaufsgespräch. Unter einem Regenschirm hat er einen kleinen rostigen Grill angeheizt. Die Holzkohle qualmt  wie wild, sie ist feucht geworden. Denn als wolle der Himmel die Marokkaner für die quälende Trockenheit der letzten Jahre an einem einzigen Tag entschädigen, schüttet es wie aus Kübeln. Sogar der unermüdliche Wasserverkäufer, der in seinem leuchtend roten Gewand ständig seine Runden dreht, ist vor dem Regen unters Stadttor geflüchtet. Heute ist nicht sein Tag.

Schnell trinke ich in dem kleinen Café am R’cif meinen Tee. „Ich warte auf Leute, ich hab’s eilig“, entschuldige ich mich. Der junge Mann am Grill schaut mich verwundert an, überlegt einen Moment und lächelt.
„Eilig haben es bei uns nur die, die auf den Friedhof müssen.“ Nach islamischem – und auch jüdischem – Ritus müssen die Toten binnen 24 Stunden beerdigt werden. Lebende haben Zeit in Marokko. Viel Zeit.

Trip-Info

Orientalisch. „Suprême Bouquet“ heißt ein neuer Duft aus der „Oriental Kollektion“ von Marokko-Li ebhaber Yves Saint Laurent – 80 ml um 180 Euro.
Schonend. Marokkanischer Dampfgartopf: die Tajine.
Inspirierend. Vielfältige Rezepte in „Marrokanisch kochen“ von Ghillie Basan. Umschau-Verlag, 19,95 Euro

Staatliches marokkanisches Fremdenverkehrsamt, 1010 Wien, Kärntnerring 17/2/3; Tel.: 01/ 512 53 26, visitmorocco.comunterstützte den Autor.
Infoportal der Stadt Fès: http://fes-city.com

Übernachten:
Ziyarates Fes, Zimmer mit Familienanschluss: Der gemeinnützige Verein vermittelt Privatunterkünfte. So bleibt Geld, das Touristen ins Land bringen, bei denen, die es wirklich brauchen. Die Gastgeber bekommen vom Verein Englisch- und Französischkurse, damit sie sich mit den Besuchern verständigen können: Union de Associations et des Amicales Humanitaires de Fès Médina, 35 Sidi Kjih, Talaa Sghera, Fès Médina, DZ ab ca. 40 Dh ; Tel.: +212/(0)535/63 46 67,ziyaratesfes.com,

Dar El Ghalia: Liebevoll und detailgetreu restauriertes historisches Riad in der Altstadt mit exzellentem Service, Panoramaterrasse und ausgefallener, sehr guter Fèser Küche. Die Gerichte gibt es auch vakuumverpackt zum Mitnehmen : El Ghalia, 13/15 Ross Rhi, Ras Jnane, Fès Médina, 30110 Fès, Tel.: +212/(0)535/63 41 67, http://riadelghalia.com,

La Maison Bleue Hotel, Restaurant, Bar und Wellnessoase mit Hamam mitten in der Altstadt, Tel.: +212/(0)535/74 18 43 maisonbleue.com

Anschauen: Die Medina von Fès erstreckt sich über mehrere Hügel auf einer Fläche von rund 350 Hektar. Sie ist mit 11.000 historischen Gebäuden, mehr als 9000 Gassen, 176 Moscheen, 740 Paläste, 9600 Läden und 1276 (Kunst-) Handwerker-Werkstätten eine der größten der Welt.
Fremde verlaufen sich in den verwinkelten, manchmal nur 80 Zentimeter schmalen, namenlosen Gassen. Ohne Ortskundigen finden Touristen ihren Weg hier nicht.
Eine 24 Kilometer lange, aus rohem Lehm erbaute, zinnenbewehrte Stadtmauer umschließt die gesamte Altstadt.
Zugänge zur Altstadt sind 14 reich verzierte Stadttore. Die größten sind – mit weitläufigen, geschäftigen Plätzen, Taxiständen und Cafés davor – das Bab (arab. Tor) R’cif und das Bab Boujeloud.
Den besten Ausblick auf die gesamte Anlage bietet die Terrasse des Luxushotels Les Mérinides (lesmerinides.com) , perfekt für einen Sundowner mit Blick über die Médina im Abendlicht sowie die Hügel nördlich und südlich der Stadt.

Vorsicht: Vor allem an den Stadttoren sprechen sogenannte falsche Führer (faux guides) Touristen an, verwickeln sie in ein Gespräch und wollen ihnen Sehenswürdigkeiten zeigen. Am Ende ihres Freundschaftsdienstes verlangen sie dann saftige Honorare und können sehr ungemütlich werden, wenn man nicht zahlt.
In der Altstadt verfolgen Zivilbeamte der Touristenpolizei (rote Armbinden mit der weißen Aufschrift „Police Touristique“) die falschen Fremdenführer.

Markt: Jedes Altstadtviertel hat seinen eigenen kleinen Markt, seine eigene Moschee, seinen Brunnen, einen Foundouk (einst Karawanserei, heute meist Werkstätten und Lagerhäuser) und einen Gemeinschaftsofen, in dem die Anwohner auch heute noch ihr Brot backen.
Daneben gibt es Märkte für einzelne Produktsorten wie den Gewürz- und Hennamarkt (ein Festival der Düfte).

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