Grenzlage: Weniger Wachstum

STUDIE. Orte an der innerdeutschen Grenze litten unter der Teilung.

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arum sind manche Regio nen reich, andere aber arm? Seit langem suchen Ökonomen Antworten auf diese brennende Frage. Entwickelt wurden drei Theorien, die jede für sich plausibel ist, die sich zum Teil widersprechen, sich teilweise aber auch ergänzen.

Erstens: Die Natur ist Schuld. Soll heißen, dass die Ausstattung mit Ressourcen, das Klima oder die Häufigkeit von Krankheiten wesentlich sind. Die zweite Erklärung fußt auf den Institutionen, etwa der Qualität der Regierung oder dem Schutz von Eigentumsrechten. Und drittens: der Marktzugang. Darunter werden Faktoren wie die Größe des Hinterlands, eine Grenzlage oder die Länge der Transportwege subsumiert.

Bei empirischen Studien stehen Ökonomen vor einem großen Problem: Wie kann man diese drei Theorien auseinander halten? Die europäische Geschichte bietet dazu - wie für andere ökonomische und politische Fragestellungen (siehe etwa "Die Presse" vom 20. 8. 2005) - einen "Glücksfall": die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands.

Stephen Redding (London School of Economics) und Daniel Sturm (Universität München) haben in einer Studie die Entwicklung von deutschen Städten in der Nachkriegsgeschichte betrachtet - und zwar abhängig davon, ob sie in der Nähe des ehemaligen Eisernen Vorhangs liegen oder nicht.

Durch den Vergleich von 119 Städten in Grenzlage mit dem Rest Westdeutschlands lässt sich der regionale Aspekt abtrennen - weil sich die natürlichen Voraussetzungen und die Institutionen höchstens minimal von der Vergleichsgruppe unterscheiden. Als Parameter für die wirtschaftliche Entwicklung wurde das Bevölkerungswachstum gewählt.

Das Ergebnis: Die Tatsache, dass eine Stadt an der Grenze liegt - dass sie also schlechteren Marktzugang hat - ist statistisch hochsignifikant für ihre Entwicklung in der Nachkriegszeit verantwortlich. In Zahlen: Das jährliche Bevölkerungswachstum in den westdeutschen Grenzregionen lag um durchschnittlich 0,75 Prozentpunkte unter dem anderer Städte.

Über die gut 40 Jahre der deutschen Teilung hinweg summierte sich das auf einen relativen Bevölkerungsverlust von rund einem Drittel. Wenig überraschend traf die Teilung Deutschlands kleine Städte stärker als große. Der Effekt war am stärksten in den 1950- und 60er Jahren und nahm mit der Zeit ab. Oder in der Sprache der Ökonomen formuliert: Es kam zu einer "allmählichen Angleichung an ein neues Gleichgewicht der Bevölkerungsverteilung".

Um sicher zu gehen, haben Redding und Sturm andere mögliche Erklärungen untersucht: etwa das Ausmaß der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg oder die wirtschaftliche Spezialisierung. Aber Fehlanzeige: Die unterschiedliche Entwicklung lässt sich zur Gänze durch das "Marktpotenzial" der Regionen erklären. Das ist eine Maßzahl, die die Bevölkerungsverteilung in Westdeutschland nach der Entfernung gewichtet.

Für die deutsche Nachkriegssituation ist damit bewiesen, dass die Geografie die entscheidende Rolle spielt. Das soll freilich nicht heißen, betonen die Ökonomen, dass die anderen Theorien irrelevant sind - wie etwa bei einem Vergleich der Institutionen im früheren Ost- und Westdeutschland offensichtlich ist.

Und wie ist die Entwicklung seit der Wiedervereinigung? Laut Theorie sollte der Fall des Eisernen Vorhangs zu einer relativ besseren Entwicklung der Grenzregionen führen. Der Beweis dieser These fällt aber nicht überzeugend aus: Aus den Daten ist zwar eine gewisse Erholung der Grenzregionen herauszulesen, dieser ist aber statistisch nicht signifikant. Ein Detail, das die Theorie aber trotzdem unterstützt: Kleine Städte haben sich besser erholt als große.

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