Amanshausers Welt: 356 Italien

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Kleine Geschichten über große Locations.

Franco war höchstens 1,45 Meter groß, etwas größer als ich damals. Er wurde als „der Verrückte“ bezeichnet. Ich begegnete ihm ausschließlich im Gabbiano Bagni von Pietra Ligure, in den Jahren um 1978. Es war in seinen Zwanzigern, aber er hatte den Verstand eines Zehnjährigen. Einige lange Operationsnarben und diverse andere Schnitte überzogen seine Brust. Seit mir erklärt worden war, dass „solche Menschen“ nur „dreißig Jahre, höchstens vierzig“ werden würden, erschien er mir tragisch. Seine Haut war nicht gebräunt wie jene der Sommergäste. Nahm sie keine Sonne an? Auch konnte Franco nicht sprechen wie die anderen. Er stieß seltsame Laute aus, die kaum eine Schnittmenge mit dem Italienischen zu haben schienen.

Seinen Eltern, Norditalienern, war dieses Gebrabbel unangenehm, es konnte bisweilen in lautes Kreischen übergehen. Jedes Jahr hatte er mich erneut vergessen, aber jedes Jahr freundete er sich wieder mit mir an. Er sah in mir einen Gefährten und berührte mich mit seiner kleinen Hand vorsichtig am Rücken.

Ort

Tipp

Er war mit immer irgendwie unheimlich. Franco pflegte sich mit einem Eimer bei den Frauen, die auf den Liegen lagen, von hinten anzuschleichen und das Wasser plötzlich, unvermittelt, über die bronzenen Körper zu gießen. Voller Freude fiel er in das Entsetzensgeschrei seiner Opfer ein.

„In Italien gibt es keine Irrenhäuser“, wurde mir erklärt. Die Verrückten würden in diesem Land bei ihren Familien leben. Mir kam das gut vor. Obwohl ich Franco ein bisschen fürchtete, stellte ich es mir viel furchtbarer vor, wenn man ihn in ein Irrenhaus gesteckt hätte. Ich beobachtete, wie er vorsichtig und höchstens knietief in der Brandung stand, gestützt von seinem Vater. Mir wurde erklärt, dass Verrückte nicht schwimmen dürfen. Ich fand das vernünftig.

Einmal saß ich im Café des Gabbiano Bagni, als Franco sich von der Seite näherte. Ich hatte keine Ahnung, was er plante. Als er ganz nahe war, riss er mir mit einem Ruck das Mozzarella-Panino aus der Hand. Ich schrie auf, er meckerte fröhlich, lief davon und aß es selbst.
Irgendwann tauchte Franco nicht mehr im Gabbiano Bagni auf. Mir wurde erklärt, dass die Franco-Familie „mit ihm woanders hin auf Urlaub“ fahren würde. Trotzdem sah ich die Eltern weiterhin. Auch im nächsten Jahr. Sie verbrachten hier ihren normalen Ferragosto-Urlaub. Niemand fragte weiter. Damals schien mir das normal.

Ferragosto. Gabbiano Bagni, Via Aurelia, Pietra Ligure, Italien.

Neues Buch: Martin Amanshauser, Falsch Reisen. Alle machen es (Picus Verlag).


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