Ladakh: Den Göttern näher

Wandern im Hochland von Ladakh
Wandern im Hochland von LadakhErich Kocina
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Beim Wandern im Hochland von Ladakh entdeckt man neben nackten Bergen und feinem Buttertee auch etwas, das im Alltag oft viel zu kurz kommt: die eigene Langsamkeit.

„Langsam, langsam!“ Es sind nur wenige Worte, die Thinles auf Deutsch kann. Doch das eine Wort, das verwendet der Bergführer immer wieder. Ruhig und gemächlich setzt er es ein, während die Gruppe auf einen Pass zusteuert. „Langsam!“ Es mag damit zu tun haben, dass Geschwindigkeit hier oben sekundär ist. Oder sogar völlig unwichtig. Weil man es im indischen Himalaja nicht notwendig hat? Vielleicht. Oder auch, weil es für die Gruppe von Wanderern, die Thinles durch Ladakh begleitet, manchmal gar nicht anders geht. Immerhin befindet man sich hier auf einer Höhe, in der die Luft schon langsam dünn zu werden beginnt.

Es beginnt schon bei der Landung. Wenn die Maschine sich zwischen den gewaltigen Gipfeln des Himalaja langsam einpendelt und sich in das Tal zwängt, in dem der Flughafen von Leh liegt. Langsam soll man es angehen, hat es vorher geheißen. In Zeitlupe soll man sich bewegen. Und ja, beim Aussteigen aus dem Flugzeug ist da dieser Hauch von Ehrfurcht. Auf 3500 Meter Seehöhe stünde man in Österreich 157 Meter unter dem Gipfel des Großvenedigers. Hier kommt es dagegen ganz plötzlich, aus der klimatisierten Flugzeugkabine stolpert man ins Freie. Schnuppert vorsichtig, wie sich die Höhenluft atmen lässt. Registriert überrascht, dass das Atmen gut funktioniert, macht zwei, drei schnelle Schritte zum Empfangsgebäude – und spürt plötzlich, dass der Tipp mit der Zeitlupe vielleicht doch nicht so schlecht war.

Schon bei kleineren Anstrengungen bleibt die Luft weg, wird der Atem schneller, beginnt das Herz aufgeregt zu pumpen. Also gut, dann lieber doch langsam, langsam. Es ist noch gar nicht so lange her, als Ladakh touristisch noch weitgehend unbekannt war. Im äußersten Norden Indiens gelegen, im Westen flankiert von Pakistan, im Osten vom chinesischen Tibet, war das ehemalige Königreich weitgehend abgeschnitten von der Außenwelt. Erst in den 1970er-Jahren wurde die Region für den Tourismus geöffnet. Zunächst nur mühsam über die Militärstraße von Srinagar zu erreichen, wird Ladakh mittlerweile ganzjährig angeflogen. Heute ist der Tourismus die wichtigste Einnahmequelle der Region, rund 100.000 ausländische Gäste werden jedes Jahr gezählt – wobei die Saison wetterbedingt äußerst kurz ist. Zwischen Juni und August herrscht hier Hochbetrieb. In dieser Zeit wächst auch die Bevölkerung von Leh, die sonst bei etwa 15.000 Einwohnern liegt, auf zumindest das Doppelte an. Bauarbeiter aus Indien und Nepal, Händler aus Kaschmir, tibetische Souvenirverkäufer, so wie auch viele Ladakhis aus den Dörfern – sie alle kommen, um am Tourismus mitzuverdienen.

Dazwischen spazieren Kühe. Dementsprechend wirkt es im Zentrum der Hauptstadt dann auch nicht allzu ruhig und beschaulich. Autos und Mopeds zwängen sich durch die Fort Road, eine der wichtigsten Straßen der Stadt, vorbei an Geschäften, Restaurants, Internetcafés und Reise­büros. Dazwischen spazieren Kühe. Und Touristen. An ihrem Tempo lässt sich erkennen, wie lange sie schon hier sein müssen. Wer beschwingt durch die engen Gassen der Altstadt marschiert, hat wohl schon einige Tage in der Höhenluft verbracht. Die frisch angereisten Gäste gehen es noch langsam an – bleiben beim Bergaufgehen immer wieder stehen, um zu verschnaufen. Und richten den Blick immer wieder auf die umliegenden Berge. Und auf den markanten Königspalast, der als von fast überall sichtbares Wahrzeichen die Stadt überragt. Hier hinauf führt denn auch einer der ersten längeren Spaziergänge. „Langsam, langsam“, natürlich, geht es durch das Gewirr der Altstadtgassen, vorbei an der Moschee, an Bäckereien, in denen indisches Fladenbrot gebacken wird. Und schließlich über steinerne Treppen bis zum Eingang des 400 Jahre alten Palasts.

Staubtrockene Luft. Von hier oben schweift der Blick über Leh. Grün wirkt die Stadt, voller Sträucher und Bäume, vorwiegend Pappeln, zwischen den Häusern. Und das inmitten einer Region, die staubtrocken ist. In dieser Region des Himalaja fällt nur wenig Niederschlag, weil die Monsunwolken sich ihrer lebensspendenen Ladung schon über den Bergketten im Süden entledigen. Es dominieren Braun- und Rottöne im Gestein. Nur einige Täler der Hochgebirgswüste, in denen es genug Schmelzwasser von den Himalaja-Gletschern gibt, blitzen als grüne Oasen hervor. Und wie in einer Wüste üblich neigen auch die Temperaturen zu Extremen. Da kann es trotz der großen Höhe im Sommer durchaus 35 Grad haben, die sich allerdings wegen der trockenen Luft nicht so heiß anfühlen – auch der Wind sorgt für Abkühlung. Ist die Sonne untergegangen, wird es recht schnell kühl – und ohne Pullover oder Jacke ziemlich ungemütlich.

Langsam, langsam – aber irgendwann endet die Zeit der ersten Eingewöhnung. Der Weg vom Zimmer zur Hotelrezeption geht dann schon ohne Keuchen. Und nachts ist auch Durchschlafen trotz der dünneren Luft kein Problem mehr. Zum eigentlichen Ziel, dem Wandern in den Bergen, ist es noch ein Stück hin. Doch die Dosis der Anstrengung wird nach und nach gesteigert. Etwa mit dem morgendlichen Aufstieg ins Kloster von Thiksey, etwa 20 Kilometer von Leh entfernt. Gegen sechs Uhr morgens beginnt hier die Puja, die Morgen­meditation der Mönche. Es sind Momente wie diese, die vor allem jene Menschen ansprechen, die die buddhistische Spiritualität erleben wollen. Wenn Dutzende Mönche in ihren roten Kutten auf den dicken Teppichen des Klosterraums ihre Verse rezitieren, während einige der Novizen noch darum kämpfen, überhaupt wach zu bleiben. Mit mühsam geöffneten Augen verteilen die Buben zwischendurch Buttertee aus riesigen Aluminiumkannen und Tsampa, geröstete Gerste – nicht nur an die Mönche, auch die Gäste dürfen am morgendlichen Mahl teilhaben.

Eine, manchmal sogar zwei Stunden dauert die Puja. Als Tourist lehnt man sich am besten zurück, lässt sich von der Monotonie der Gesänge mitreißen und beobachtet das Zeremoniell. Dass sich nicht alle Besucher daran halten, gehört auch dazu. Meist sind es Gruppen chinesischer Busreisender, die mit großem Getöse mitten in die Meditation platzen, sich alles andere als dezent unter die Mönche mischen und sie mit ihren Objektiven ins Visier nehmen. Die Mönche selbst versuchen, ruhig zu bleiben und sich in ihrem Gebet nicht stören zu lassen. Und üblicherweise endet der Spuk auch schon nach einigen Minuten – wenn die Gruppe genügend Aufnahmen gemacht hat und sich zum nächsten touristischen Hotspot aufmacht. Dabei lohnt es sich durchaus, sich das Kloster näher anzusehen. Unter anderem wegen einer besonders schön gearbeiteten Buddha-Statue, die sich in einem Seitentempel auf zwei Stockwerke erstreckt. Wegen der grandiosen Aussicht über das Industal. Und nicht zuletzt wegen der Klosteranlage selbst. Mächtig thront das Hauptgebäude auf einem Hügel, davor finden sich unzählige Mönchswohnungen und Chörten – die lokalen Varianten buddhistischer Stupas. Zweifellos eines der lohnenswertesten Fotomotive der Region.

Etwa drei bis vier Tage nach der Ankunft sollte der Körper sich schließlich so weit an die Bedingungen in der großen Höhe gewöhnt haben, dass es mit dem eigentlichen Abenteuer Ladakh losgehen kann. Der Großteil der Besucher kommt schließlich hierher, um in den Bergen zu wandern. An diesem Punkt kommt auch wieder „langsam, langsam“ ins Spiel. Wenn Bergführer Thinles selbst wie eine Gams über die Steine zum 4600 Meter hohen Gyamsa La hochspringt – doch die westlichen Besucher mahnt, den Pass locker anzugehen. Für die Einheimischen gehört der Weg über die Berge zum Alltag. Viele können gar nicht anders, weil manche Dörfer anders nicht zu erreichen sind. Für Touristen ist dieses Tempo in der Regel nicht machbar. Was aber nicht besonders stört. Man hat es ja nicht eilig. Eine fünfstündige Wanderung auf den Berg entschleunigt ungemein. Doch bleibt die Euphorie dabei nicht auf der Strecke. Jeder bezwungene Pass wird gefeiert. Vor den Gebetsfahnen, die, vergleichbar den europäischen Gipfelkreuzen, an den höchsten Stellen angebracht sind, werden Fotos vom Gipfelsieg gemacht. Und irgendjemand aus der Gruppe stimmt immer den Ruf des Triumphs an: „Ki ki so so lha gyalo!“ Mögen die Götter siegen! Trekkingtouren gibt es in allen möglichen Variationen. Von Tagesausflügen aus Leh bis zum legendären Zanskar Trek, der Querung des Himalaja-Hauptkamms, die rund 17 Tage in Anspruch nimmt. Und auch noch einige Varianten dazwischen. Wobei es vor allem dort besonders spannend wird, wo es tatsächlich keine andere Möglichkeit gibt, als einen Ort zu Fuß zu erreichen. Das Dorf Lingshed etwa liegt auf rund 4000 Metern Seehöhe in einem Talkessel, der nur über einen etwa fünfstündigen Marsch erreicht werden kann. Rund 1000 Menschen wohnen hier in 80 Häusern und Höfen, leben vom Anbau von Gerste und Erbsen und halten Yaks und Ziegen. Das kulturelle Zentrum des Dorfes ist das Kloster Lingshed, in dem etwa 60 Mönche leben. Segnungen der Zivilisation wie Strom oder fließendes Wasser gibt es hier nicht, für größere Besorgungen ist jedenfalls ein längerer Fußmarsch nötig.

Meditative Begleitmusik. Zwar ist seit Längerem eine Straße nach Lingshed in Bau, doch endet sie noch an einem steilen Hang nahe des Passes Kiupa La in 4450 Metern Höhe. Von hier aus geht es nur noch zu Fuß weiter. Es ist fraglich, ob und wann dieses technisch schwierige Stück von hier über das Dorf Skiumpata nach Lingshed überhaupt fertiggestellt werden kann. Straßen sind allerdings zweischneidige Schwerter: Für die Dorfbewohner ist der Anschluss an die nächstgrößeren Ortschaften eine Erleichterung. Für den Wandertourismus, der für einen großen Teil der Einnahmen in Ladakh sorgt, geht ein Teil des Flairs verloren, den ein so abgeschnittener Ort hat.

Gerade das Fehlen jeglicher touristischer Infrastruktur macht den Reiz von Trekkingtouren aus: übernachten im Zelt unter dem klaren Sternenhimmel; in der Früh von einer vorbeiziehenden Schafherde geweckt werden; sich im eiskalten Wasser eines Gebirgsbaches waschen oder die verschwitzte Kleidung ausspülen; und nicht zuletzt auch die Möglichkeit, ganz für sich allein zu bleiben. Die ersten Tage wandert die Gruppe meist noch gemeinsam im Rudel, aufgeteilt höchstens durch die unterschiedliche Fitness. Während die sportliche Gruppe schon oben auf dem Pass (tibetisch: La) wartet, steigt eine mittlere erst den Kamm hinauf, während die Nachzügler noch mit der Ebene kämpfen. Doch nach einigen Tagen ist das Bedürfnis nach Unterhaltung nicht mehr allzu groß. Das Alleingehen wird attraktiver und das regelmäßige Klicken der Wanderstöcke auf dem Boden zur meditativen Begleitmusik. Auf den steilen Bergaufstücken gibt das Atemgeräusch den Rhythmus vor. Dabei wird der Kopf mehr und mehr frei. So mancher Gedanke, der sonst keine Chance hätte, wagt sich plötzlich aus den Ganglien hervor. Unterbrochen wird das meditative Versinken nur noch durch die eine oder andere Pause. Oder durch ein fröhliches „Julee“, das einem entgegengerufen wird. Von Einheimischen, die eine Schafherde die Wiese hinauftreiben. Aber auch von anderen Wanderern, denen man hier im indischen Himalaja begegnet. Julee, das ist der Gruß in Ladakh. Der lebensfrohe Ruf in einer lebensfeindlichen Umgebung, mit der sich die Menschen arrangiert haben.

Vergiss dein Handy, vergiss den Griff danach. „Langsam, langsam“ ist Thinles wieder zu hören. Er steht schon wieder weit oben am Hang, auf den sich ein Schotterweg in Serpentinen hinaufmäandert. Ja, langsam. Wahrscheinlich könnte man, da man jetzt schon an die Höhe gewöhnt ist, schneller gehen. Aber wozu? Es gibt keinen Grund zur Eile. Hier ist man weit weg vom Alltag, in Schluchten und zwischen Bergen sind die Gedanken überall, nur nicht daheim. Und selbst wenn man wollte, die Verbindung nach Hause wird nicht klappen. In Ladakh funktionieren lediglich einige wenige registrierte Handys. Internet gibt es nur vereinzelt in größeren Orten.

Der routinierte Griff zum Mobiltelefon kommt von Tag zu Tag seltener. Bis das Gehirn irgendwann begriffen hat, dass es nichts bringen wird. So bleiben die Hände auf den Wanderstöcken, während die Füße über die steinige Anhöhe auf den nächsten Pass zumarschieren. Oben wird Thinles gratulieren. Er wird gemeinsam mit der Gruppe für die Fotos posieren, mit einer Chörte im Hintergrund, um die lange Seile mit Gebetsfahnen gespannt sind.
„Ki ki so so lha gyalo!“ Mögen die Götter siegen. In diesem Moment fühlt man sich ihnen jedenfalls ein bisschen näher.

Info

Köstlich. Buttertee ist im ganzen tibetischen Raum eine Ernährungskonstante. In großen Höhen braucht der Körper viel Flüssigkeit und gegen die Kälte Fett. Der Tee, der mit Salz und Butter aus Yakmilch verrührt wird, ähnelt geschmacklich einer Suppe. Im klimatisch herausfordernden Himalaja gehört der wärmende und kalorien­reiche Tee zu den Grundnahrungsmitteln. Tsampa wiederum ist Mehl aus geröstetem Getreide, meistens aus Gerste, das mit Tee zu einer teigähnlichen Masse geformt und meist in Form kleiner Kugeln gegessen wird.

Ladakh ist eine Region im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Mit etwa 270.000 Einwohnern auf etwa 90.000 Quadratkilometern ist das Land äußerst dünn besiedelt. Allerdings täuscht diese Zahl, sind doch nur etwa 0,4 Prozent der Fläche in der Himalaja-Region tatsächlich bewohnbar. Wirtschaftliches und kulturelles Zentrum sowie wichtigster Verkehrsknotenpunkt ist die Hauptstadt Leh, die in 3500 Metern Höhe liegt. Erreichbar ist Leh am komfortabelsten per Flug von Neu Delhi.

Organisierte Wanderungen bietet neben anderen Reiseveranstaltern das Grazer Unternehmen Weltweitwandern in verschiedenen Längen und Schwierigkeitsgraden an – vom 18-tägigen Kultur & Wandern ohne Zeltnächte bis zum 29-tägigen großen Zanskar-Trek. Infos: www.weltweitwandern.at/ladakh

Beste Reisezeit: Juni bis September.

Compliance-Hinweis: Die Reise des Autors wurde von Weltweitwandern finanziert.

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