Peru: Drei Coca-Blätter für die Götter

Die alte Inka-Stadt Machu Picchu
Die alte Inka-Stadt Machu PicchuReuters
  • Drucken

Jeden Tag pilgern Hunderte Touristen auf dem Inka-Pfad zu Perus größter Attraktion: Machu Picchu. Doch diese Route ist teuer und überlaufen. Der Salkantay-Weg ist eine atemberaubende Alternative fernab der Menschenströme.

Es brennt. Jeder Luftzug schürt das Feuer in den Lungen. 4250 Meter über dem Meeresspiegel. Der Kopf dröhnt dumpf. Ein Bein vor das andere. Schritt für Schritt. Noch 400 Meter. Jedes Jahr besucht mehr als eine halbe Million Menschen die alte Inka-Stadt Machu Picchu, bis zu 3000 Menschen pro Tag. Vor zwei Jahren ging deshalb ein Aufschrei um den Globus. „Weltwunder in Gefahr“, unkten die Zeitungen, die Unesco drohte, der Ausgrabungsstätte den begehrten Titel Weltkulturerbe der Menschheit zu entziehen. Der Inka-Pfad steht der Ruinenstätte in nichts nach. Zwischenzeitlich war er so stark überlaufen, dass die Regierung die maximale Benutzerzahl pro Tag und Streckenabschnitt auf 500 begrenzte. Davon sind nur etwa 220 Touristen, der Rest Führer, Köche und Träger – entsprechend schnell sind die Tickets ausverkauft.

Schöner und fordernder

Die fünftägige Salkantay-Route führt über knapp 70 Kilometer ebenfalls nach Machu Picchu. Und obwohl sie nicht mit Ruinen aus dem Inka-Imperium aufwarten kann, ist sie landschaftlich schöner, bei rund 230 Euro für fünf Tage günstiger und mit Höhen bis zu 4650 Metern über dem Meeresspiegel fordernder. Die Sonne klettert über die Bergrücken der Anden, unser Bus holpert die Serpentinen entlang und spuckt uns in dem kleinen Ort Mollepata aus. Unser Wanderführer heißt – für einen Peruaner eher untypisch – Jean Paul. Jean Paul Jordán ist 30 Jahre alt und wandert seit sieben Jahren jede Woche nach Machu Picchu. Sein Job, sagt er, erspare ihm das Fitnessstudio.

Aufstieg. Die Berge schmiegen sich sanft an den Horizont, der grüne Grasteppich leuchtet satt im Sonnenlicht. Wir befinden uns auf 3500 Metern Höhe, das Herz rast. In den Alpen liegen viele Gipfel auf dieser Höhe, in Peru gilt das schon für Städte wie Cusco. Je näher wir der schneeweißen Spitze des Salkantays kommen, desto atemberaubender wird der Ausblick. Im wahrsten Sinn des Wortes. Pause. Die Höhe ist geschafft. Jean Paul rupft ein Büschel Kraut aus der Erde. „Das“, erklärt er, „ist Muña, die kleine Schwester der Coca-Pflanze.“ Die Andenbewohner kauen Coca-Blätter, um die Höhenkrankheit zu bekämpfen und trinken Muña-Tee, um den Körper zu entspannen und gut zu schlafen. Das Camp ist in Sicht, nur die Beine sind müde. „Die Chasquis oder Inka-Läufer waren für die Inka das, was für uns heute Facebook und WhatsApp sind: Nachrichtenüberbringer. Solche Strecken waren für sie ein Kinderspiel“, sagt Jean Paul und zieht vorbei.

Im Camp zaubert unser Koch Vicente ein Vier-Gänge-Menü auf die Bierbank, das so manches Restaurant in den Schatten stellt. Die Abendsonne schießt die letzten Strahlen über den Rücken des Humantay-Gletschers, bevor sie matt hinter dem Berg verschwindet. Die Temperatur senkt sich um gefühlte 20 Grad. Ein letzter Schluck Muña-Tee, ein Blick in den Himmel, an dem die Sterne so klar funkeln wie zu Inka-Zeiten. Dann ab in den Schlafsack. „Bei uns gibt es kein Zimmerservice“, hatte Jean Paul noch am Vorabend gesagt, „sondern Zeltservice.“ Als um fünf Uhr früh der Koch Vicente gegen das Zelt klopft und eine Tasse Coca-Tee reicht, scheint der Mond so hell über das Camp, dass sich groteske Schatten in den gefrorenen Boden fressen. Heute soll unser härtester Tag werden, mit 21 Kilometern, 600 Höhenmetern Auf- und knapp 2000 Metern Abstieg. Pferdehirten scheuchen die Gäule an uns vorbei und laufen selbst, als wäre es ein Sonntagsspaziergang durch den Park. Vicente wird erst nach uns starten und trotzdem vor uns im nächsten Camp ankommen.

Nur nicht stehen bleiben. Nicht denken, laufen! Und dann, endlich, nach drei Stunden stehen wir am Salkantaypampa-Pass. Jean Paul sagt, er wolle eine Zeremonie für die Götter seiner Vorfahren abhalten und lacht zum ersten Mal nicht. „Wir Peruaner sind zwar katholisch, aber es ist unsere Pflicht, die Bräuche und Traditionen unserer Vorfahren zu bewahren.“ Er hebt drei Coca-Blätter in alle vier Himmelsrichtungen, legt sie auf ein Steinmännchen, betet und dankt für einen sicheren Aufstieg. Ab jetzt geht es bergab. Die Landschaft schickt uns jetzt nach Irland. Das ewige Eis und die eintönige Pampa liegen hinter uns, Esel grasen an Steinmauern. Mit jedem Schritt wird es grüner und wärmer, endlos schlängelt sich der Weg in Richtung Urwald. Nach neuneinhalb Stunden ist die nächste Kurve die letzte Kurve. Tag drei und vier verwöhnen uns mit ebenen Wegen durch den Urwald und an Bahngleisen entlang. Der Salkantay ist eine Wanderung durch die Klimazonen – vom Gletscher bis in die Tropen.

Mehr als nur Steine

Tag fünf. Machu-Picchu-Tag. Um fünf Uhr öffnen die Wärter die Tore. Der letzte Anstieg ist härter als alles zuvor. Treppe um Treppe, vierhundert Höhenmeter, steigen wir auf den Berg hinauf. Machu Picchu ist Quechua und bedeutet alter Gipfel. Die Inkas erbauten die Stadt im 15. Jahrhundert als Teil ihres Imperiums, das sich über ganz Südamerika erstreckte. Nach der Eroberung durch die Spanier geriet die Stadt in Vergessenheit. Im 19. Jahrhundert stießen verschiedene Forscher auf die Ruinen, doch erst der Amerikaner Hiram Bingham begriff die Bedeutung seiner Entdeckung und ebnete den Weg zur Verwandlung in Perus größte Tourismusattraktion. Noch liegen die Ruinen friedlich und still im Schatten. Nur ein Lama kaut gelangweilt auf einem Büschel Gras. Um Punkt sechs stürmen die Touristen die Inka-Ruinen, Fotoblitze zucken durch Steingänge. Ein Selfie hier, ein Panorama da. „Spürst du die Energie?“, fragen die Führer ihre Schäfchen. Wir laufen von Haus zu Haus, Garten zu Terrasse, Stein zu Stein. Acht Stunden lang. Plötzlich grollt Donner über die Anden, die Menschen flüchten vor dem einsetzenden Regen. Tropfen prasseln auf die Steine, die eben mehr als Steine sind. Und auf einmal kann man sie spüren: Die Energie von Jean Pauls Vorfahren, die einem auch ohne Höhe den Atem raubt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.