Helsinki: Granit und Wodka

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Helsinki hat ein neues Szeneviertel. Aber Kallio ist ein Quartier, das sich tarnt. Mit finnischem Understatement.

Claudio Evangelista ist seiner Sache sehr sicher. „Vergesst Punavuori“, sagt er. „Auch Katajanokka ist out. Angesagt ist heute Kallio. Künstler, Studenten, Designer – alle wollen sie nach Kallio.“ Aha – sehr mutig, der Herr. Ausgerechnet ein Mann aus Brasilien behauptet da kurzerhand, dass das ehemalige Arbeiterviertel am Fuß der grauen Kallio-Kirche, nördlich der Markthalle Hakaniemi, in Sachen Lifestyle inzwischen den zwei anderen, sehr geschätzten Quartieren Helsinkis den Rang abgelaufen habe. Aber Claudio muss es wissen. Schließlich wohnt er seit fünfzehn Jahren mitten drin auf der Kaarlenkatu und betreibt dort eines der gefragtesten Geschäfte. Aber jetzt muss er erst einmal dem jungen Paar aus Japan erklären, dass der Mann besser seinen Rucksack in die Ecke stellt. Sonst fegt er in der Enge noch ungewollt einen der klassischen Weihnachtsteller vom Tisch. Und das kann sehr teuer werden.

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Wanha Kaarle ist ein Altwarenladen, aber nicht irgendeiner. Er ist spezialisiert auf finnisches Design der 1960er- und 1970er-Jahre. Spardosen, Gusseisenpfannen, Schnapsgläser, Uhren und Briefbeschwerer stapeln sich in Regalen und auf Tischen und füllen die beiden Räume bis zur Decke. Vor beinahe 30 Jahren kam Claudio wegen einer finnischen Frau nach Helsinki. Die Ehe hielt nicht lange, die zweite, mit Kaija, dauert schon über 20 Jahre. Kaija ist nicht weniger lebhaft als er, und als die Japanerin eine der Tassen mit Muminmotiven, der beliebtesten Comicfigur Finnlands, herunternimmt, sagte sie lachend: „Look, yes. Buy, no.“ Es ist ihre persönliche Sammlung, da steht nichts zum Verkauf, obwohl für seltene Exemplare inzwischen Hunderte von Euro bezahlt werden.

Claudio und Kaija teilten von Anfang an die Begeisterung für Alltagsgegenstände und begannen zu kaufen und zu verkaufen. Gläserne Briefbeschwerer, Schneebesen, Mörser, Spielzeugtraktoren – bis vor fünf Jahren war das alles mit etwas Glück noch billig zu haben. Inzwischen ist ihr Geschäft, nachdem in japanischen Magazinen Berichte darüber erschienen sind, unter Touristen aus Fernost eine heiße Adresse. Auch die beiden jetzigen Kunden sind im Wunderladen inzwischen fündig geworden und haben aus einer Kiste zwei komplette Bestecke von Hackman

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gekramt.

„Aha, Kenner“, sagt Claudio nach kurzem Blick, und: „80 Euro.“ Die beiden zögern. Claudio zieht einen Katalog unter dem Tisch hervor, blättert und zeigt, welche kaum unterscheidbaren Varianten dieser Löffel und Gabeln im Lauf der Jahre produziert wurden und dass sie offiziell noch teurer gehandelt werden. „Sagen wir 100“, meint er, „und ich gebe euch ein drittes Set dazu.“ Kurzes Überlegen, Strahlen auf beiden Seiten, Abgang. Dass Kallio ein Szenequartier ist, sieht man ihm nicht sofort an. Auf und ab führen die Straßen rund um Karhupuisto, den kleinen Park mit dem nostalgischen Kiosk und der Statue des Bären aus rotem Granit. Gesäumt sind sie von fünf-, sechsstöckigen Wohnblocks, in deren Erdgeschoß immer schon kleine Läden untergebracht waren. Erst in den letzten Jahren wurden die von Designern, Start-up-Firmen und Thai-Masseusen übernommen. Aber sie ballen sich nicht, sie sind über das Viertel verteilt, man muss wissen, wo und wonach man sucht. Tapettitalo in der Fleminginkatu etwa hat 200 Arten von Designer-Tapeten zur Auswahl, und der Kopf schwirrt dem Besucher bald vor all den Riesenblumen, stilisierten Tieren und einstürzenden Neubauten. Frida marina in der Kaarlenkatu 10 und Anse im der Flinginkatu 8 haben eine wechselnde Auswahl an Secondhand-Kleidung: Taschen, Schuhe, Kleider, Ketten. Schon schön – und manchmal auch schrecklich –, was finnische Designerinnen und Designer sich über die Jahre ausgedacht haben.

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Nackter Stein. Zwischen den Häusern tritt immer wieder der bloße Fels zutage, auf dem Helsinki erbaut wurde. Hügelige Wiesenstücke liegen dazwischen, auf denen abgeklärte Hipster in der Sonne ihre Bärte lüften, Studentinnen mit Dutt nicht studieren und Straßenbahnfahrer teigige Bäuche zur Schau stellen – doch lebt man bunt durcheinander in Kallio. Dass es zwei öffentliche Saunen gibt, gehört da unbedingt dazu. Es geht wenig grell zu tagsüber, wenig vorzeige-hip. Fast scheint es, als geniere sich der Ort ein wenig für seinen Status und wolle bloß keine Werbung in eigener Sache machen: Die Mieten sind ohnehin gestiegen in den letzten Jahren. An Cafés und Kneipen freilich herrscht kein Mangel. Cafe Bergga hei ßen sie Sirdie oder Baari Breezeri. Vor den einen sitzen Männer mit Glatze, flächendeckenden Tattoos und Gangsta-Sonnenbrille und trinken billiges Louma. In anderen wird Bio-Bier aus kleinen Brauereien vom Land ausgeschenkt, man hört mehr Englisch als Finnisch und die Gespräche drehen sich um Konzerte in Stockholm, Billigflüge nach Berlin und Nachfolgeprojekte in Barcelona. Abends allerdings füllen sich fast alle Läden. HipHop und karierte Hemden aus den 1970ern dominieren in den einen, Marimekko-Blüschen, ein bisschen Rouge und Wochenend-Rasierwasser in der anderen. Im „Cella“ treffen sich die Fraktionen, Hunger hat schließlich jeder. Musik läuft laut, der Fernseher zeigt Leichtathletik, alte Micky-Maus-Hefte verkürzen die Wartezeit. „Kalliossa jo Vuodesta – Gaststätte in Kallio seit 1969“, vermeldet die Speisekarte stolz. Wir sind wer – und also dürfen allenfalls Stammgäste von damals in Sachen Kommunikation von den beiden Wirten die Andeutung eines Lächelns erwarten. Aber das Essen! Blinis mit Sauerrahm und Pilzsalat, knusprig gebratene Maränen auf Erdäpfelpüree, Rentier-Geschnetzeltes mit Preiselbeeren – beste finnische Hausmannskost, und das zu erschwinglichen Preisen. Dann beginnt die Nacht. Die mit Hornbrille und Zöpfchen ziehen zum Feiern ins Kundes Linja – ein DJ aus Tallin ist heute abend angesagt. Die anderen wandern zum Karaoke ins „Tenkka“. „I did it my way“, läuft gerade. Passt genau, für die Menschen wie für ihr Quartier.

Tipp

Variabel. Schmeckt süß oder salzig: Karelische Pirogge.
Spritzig. Longdrink mit Gin, kurko.fi
Niedlich. Mumins muss man mitbringen. moominproducts.com


Juuri: Hier geht man hin, um Sapas zu essen: winzige Häppchen aus finnischen Zutaten, perfekt kulinarisch geadelt: Porridge mit Räucherhering und Gurke, Schweinskopfsülze an Senfsaat, Rindfleisch mit Rhabarbercreme, Forelle mit Rogen und saurem Rahm. Kleine Happen für 4,60. Geld einstecken und genießen. Korkeavuorenkatu 27, juuri.fi

Scandic Grand Marina: Das große Hotel ist in einem ehemaligen Lagerhaus direkt an einem der Häfen untergebracht und liegt sehr zentrumsnah. Auch wenn der Massen aufmarsch zum Frühstück im Sommer nicht jedermanns Sache ist, stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis. DZ + F ab 91 Euro. Katajanokanlaituri 7, scandichotels.com

Harakka: Die Elster ist eine Insel vor der Küste Helsinkis, in fünf Minuten mit dem Boot zu erreichen. In den einstigen Militärkasernen haben sich Künstler angesiedelt und zeigen kleine Ausstellungen. Vögel brüten, und im Naturzentrum gibt es Erklärungen zum Leben in der Ostsee.

Kamppi: Wie eine überdimensionierte Holzschale oder eine futuristische Arche erhebt sich die Kirche der Stille seit 2012 am ehemaligen Busbahnhof. Im ovalen, honigfarbenen Innenraum stehen zwölf einfache Bänke – ein schöner Raum, um zwischendurch Luft zu holen.
Gebaut wurde aus Fichte und Erle. Mo bis Fr 7-20 Uhr, Sa + So 10–18 Uhr

Hietsumarket: Gut, es ist etwas schmuddelig in dem weitläufigen, vollgestellten Keller. Wer aber gern kistenweise alte Fotos, Briefe und Postkarten durchblättert, nach gebrauchten Kameras und Angeln stöbert und unbedingt aus Kisten eine alte Fliegerbrille herausfischen will, der sollte für diesen Altwarenladen reichlich Zeit einplanen. Hietalahde ranta 11.

Arabia: 1873 wurde die weltberühmte Porzellanfabrik gegründet. Das Museum im 9. Stock zeigt, wie Geschmack und Geschirr sich im Lauf der Jahrzehnte änderten. Eine Ausstellung versammelt alle Ausgaben der legendären Mumin-Tassen.

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