Madrid: Krise? Welche Krise?

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Die Stadt hat alles: Boulevards, schattige Gassen, Art-déco-Bauten und Quartiere, in denen die Menschen die Zukunft in die Hand nehmen.

"Hat jemand eine Knoblauchallergie?", fragt Javier lachend ein Häuflein deutscher Touristen dort auf der Plaza Santa Ana. Im Hintergrund leuchtet blütenweiß das 100-jährige Luxushotel Reina Victoria, gegenüber das Teatro Español, Europas ältestes noch bespieltes Theater. Scharen von Nachtschwärmern ziehen über das Kopfsteinpflaster in die Bars und Kneipen des Ausgehviertels. Javier startet hier seine deutschsprachigen Tapas-Touren durch die Madrider Altstadt. „Wir Einheimischen sind wie Kakerlaken“, erzählt der Mittdreißiger lachend. „Wir gehen da hin, wo es dunkel ist.“ In den sonnigen Straßencafés auf den großen Plätzen säßen vor allem Touristen. Javi, wie sich der fröhliche junge Mann nennt, führt ins Lacón.

„Hay raciones“, etwa „Portionen“, steht an fast jeder Bar am Eingang. „Niemand bestellt Tapas. Die gibt's automatisch zum Getränk“, erklärt Javier. Entstanden ist die Tradition angeblich im 16. Jahrhundert, als mit dem habsburgischen Königshof das Gefolge in die neue Hauptstadt kam. Sie verlangten Bier. Weil es das nicht gab, tranken sie schweren spanischen Wein. Als die Wirte genug von betrunkenen Höflinge hatten, legten sie ihnen belegte Brote als Deckel (Tapa) auf die Gläser. So hofften sie, dass die Herrschaften länger nüchtern und friedlich blieben.

„Gute Bars erkennst du am Müll auf dem Boden“, erklärt Javier und liefert gleich den Beleg. La Casa del Abuelo, das Haus des Großvaters, hat angeblich die besten Gambas con ajillo, in Öl und frischem Knoblauch gebackene Garnelen. Unter den Barhockern liegen Papierservietten, Zahnstocher und anderer Unrat, obwohl der Wirt zwei Papierkörbe dafür aufgestellt hat. Viel Abfall, reichlich Gäste, gutes Essen, so die Logik der Madrileños. In der Hauptstadt verschmelzen die Kulturen des Landes. Die meisten Bewohner sind in den 1950er-, 60er- und 70er-Jahren zugewandert. Am Rande Madrids floriert der zweitgrößte Fischmarkt der Welt. Zahlreiche Fischgerichte brachten die Zuwanderer von den Küsten mit.

Das Dorf in der Stadt

Wie unter einem Mikroskop zeigt sich der permanente Wandel der Metropole im einen halben Quadratkilometer kleinen Stadtteil Lavapiés am Südrand der Innenstadt. In die Altbauwohnungen ziehen Künstler, Designer, Musiker und andere, die hier ihr in der Wirtschaftskrise mühsam gewordenes Leben selbst in die Hand genommen haben. Auf dem eingezäunten Grundstück neben der Markthalle La Cebada gedeihen in Holzkisten Kräuter, Spinat, Tomaten und weiteres Gemüse. Auf selbst gebauten rohen Holzbänken lesen, dösen und diskutieren junge Leute. Einige spielen auf dem betonierten Platz Basketball. Zusammen mit Monica und weiteren Freiwilligen organisiert Musiker Pedro den Garten, Feste, Konzerte, Lesungen und das Freiluftkino des Campo de la Cebada. Wer etwas veranstalten möchte, bringt die Vorschläge montags auf der Vollversammlung ein.

Die Wirtschaftskrise hat Spanien verändert. Menschen in Not helfen sich gegenseitig. Was sie nicht mehr bezahlen können, stellen sie selbst her: Musik, Kunst, Lebensmittel. „Das Viertel atmet und lebt die Vielfalt“, schwärmt Pedro. Auf den Bänken des Nelson-Mandela-Platzes sitzen Afrikaner arbeitslose Tage ab. Jobs gibt es für sie keine. Andere eröffnen ein Café, einen Imbiss, einen Laden oder betteln. In Lavapiés gedeihen zahlreiche Welten, manche nebeneinander, viele miteinander: chinesische, pakistanische, westafrikanische und türkische Imbissbuden, alternative Cafés, uralte Kneipen und wohnstubenkleine Lebensmittelgeschäfte, die aus anderen Städten längst verschwunden sind. Monica arbeitet für eine Konzertagentur. Dazu singt sie, tritt als Tänzerin auf und entwickelt mit Künstlerkollegen aus Lavapiés Performance-Stücke. Auf der Terrasse des Café Baobab bestellen die ersten Gäste ihren Kaffee oder ein Caña, ein Bierchen. An die Fassade des Hauses haben die Wirte einen Baobab-Baum gezeichnet. „Schau“, sagt Monica „der hat die Wurzeln im Himmel wie wir.“

Mutige Patchwork-Existenzgründer

Wer keinen Job findet, schafft sich einen oder versucht es zumindest: Architekten, die Stadtführungen anbieten, ein ehemaliger Vodafone-Manager, der eine Kochschule eröffnet, oder die Kulturbegeisterten, die das Teatro del Barrio gegründet haben. Das Stadtteiltheater trägt Kultur in die Nachbarschaft: Eigenproduktionen, Theaterworkshops, Gastspiele und eine eigene Universität. Montags und dienstags holt es Wissenschaftler zu kostenlosen Diskussionsabenden in seine Räume. Es geht um Politik, Wirtschaft, Naturwissenschaften, oft um Themen, „über die man sonst nicht so gern spricht“: die Aufarbeitung der Franco-Diktatur oder das Königshaus. Entstanden ist hier die Bewegung, die Spanien verändert hat: Podemos lud 2011 zu einer ihrer ersten Versammlungen ins Teatro del Barrio. Fanni war von Anfang an dabei. Die Aufbruchstimmung der vielen Demonstranten an der Puerta del Sol faszinierte sie. Der diffuse Protest wurde zur Bürgerbewegung. Die Informatikerin arbeitet neben dem Fulltime-Job in Bürgerinitiativen mit. „Privatleben habe ich keines mehr“, sagt die 36-Jährige.

Aufgeben kommt für sie ebenso wenig infrage wie für Yolanda, die wegen einer Behinderung Rente bekommt. Abgekämpft wirkt auch sie, aber voller „ilusión“ – ein Wort, das sich mit Illusionen, Träumerei übersetzen lässt – oder als Hoffnung und (Vor-)Freude auf die Veränderungen, die Podemos in Spanien noch bewirken kann. „Leute haben sich umgebracht, weil die Krankenkasse lebensnotwendige Medikamente nicht mehr bezahlt“, erzählt die 35-Jährige, selbst den Tränen nah. Kraft schöpft sie aus der Aufbruchstimmung im Land, die die Protestbewegung schon bewirkt hat: „Menschen wie du und ich finden Gehör und regieren mit.“

Zwei junge Männer stehen vor einer mit Kerzen beleuchteten Erdgeschoßwohnung voller bunter Gemälde. Mario Chaamaño feiert mit ein paar Freunden Geburtstag. „Ich male realistisch“, erklärt der junge Chilene. Sein Nachbar restauriert alte Kunstwerke. Gegenüber hat ein Bildhauer eine Galerie eröffnet. „Wir arbeiten zusammen“, erzählt der 33-Jährige. Jeden Mai öffnen die vielen Künstler unter dem Motto „Los Artistas del Barrio“ ihre Ateliers. Dann ziehen Scharen von Besuchern durch den Stadtteil. Zum Leben reicht Marios Kunst noch nicht. In der nahen Tabacalera gibt er Malkurse. Die Stadt hat die stillgelegte Zigarettenfabrik zum Kulturzentrum umgebaut. In der obere Hälfte betreibt sie Ausstellungsräume. Einige der weitläufigen Hallen und Innenhöfe verwalten junge Leute selbst. In eines der ehemaligen Fabrikgebäude ist eine Fahrradwerkstatt eingezogen. Andere bieten Workshops für Malerei, Bildhauerei oder Fotografie an.

Pedro, der Musiker vom Campo de la Cebada, erlebt die Vielfalt in Lavapiés „als Mehrwert, nicht als Barriere“. „Da arbeitet eine Afrikanerin mit einem Australier zusammen, Spanier mit Argentiniern, die gemeinsam ein Konzert geben.“ All das passiere von selbst. „Da brauchst du keine Zuschüsse von der Stadt.“ Die hat sich auch politisch verändert. Nach Jahrzehnten der konservativen Ratsmehrheit hat das links-alternative Bündnis Ahora Madrid (Jetzt Madrid) die Stadtregierung übernommen.

Und plötzlich kommt die ganze Ladung

„Nach Jahren des neoliberalen PP-Mottos ,Bereichert euch, wo ihr könnt‘ schlägt das Pendel in die andere Richtung“, fasst Thomas Büser den Stimmungswandel zusammen. 23 Prozent offizielle Arbeitslosigkeit, mehr als die Hälfte aller Jugendlichen ohne Job. Die Bauwirtschaft, bis 2007 Konjunkturmotor der Wirtschaft, ist zusammengebrochen. „Diese Stadt ist wie eine Flasche Ketchup. Du schüttelst und schüttelst und nichts passiert, bis dann plötzlich die ganze Ladung herauskommt.“ Thomas, aus Deutschland zugezogener Autor und Journalist, hat einen Reiseführer über Madrid geschrieben. Sein Unternehmen Bellavista bietet Themenführungen und komplette Städtereisen an, Operntouren zum Beispiel inklusive Karten für die international begehrten Aufführungen.

Mit seinem kubanischen Lebenspartner wohnt er am südlichen Stadtrand. Noch in den 1980er-Jahren steckte der spanische Staat Schwule ins Gefängnis. Dann kam die Movida Madrileña, die bunte, fröhliche Jugendbewegung, die alles nachholen wollte, was sie unter der faschistischen Diktatur bis 1975 versäumt hatte. In Chueca und Malasaña, wo die Jugend damals feierte, Künstlerateliers und Galerien und stylische Bars eröffnete, wehen heute viele Regenbogenfahnen. Spanien hat als eines der ersten Länder gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften der Ehe gleichgestellt, erzählt Thomas. Er mag die Dichte und hohe Geschwindigkeit des Lebens, die Fülle an Kultur: ungezählte Museen, Theater, Kinos. Ständig entsteht Neues.

Compliance-Hinweis: Die Madrid-Reise wurde von Turespaña unterstützt. spain.info/de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2016)

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