Abruzzen

Hoteldorf Sextantio: Bizarre Lage, mittelalterlicher Charme

 Das orginalgetreu sanierte Hoteldorf Sextantio in den Abruzzen bietet 29 komfortable Zimmer.
Das orginalgetreu sanierte Hoteldorf Sextantio in den Abruzzen bietet 29 komfortable Zimmer. www.santostefano.sextantio.it
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Ein Mailänder Millionärserbe hat ein abruzzisches Bergkaff in ein Hoteldorf verwandelt. Der Architekt verwirklichte die Idee, indem er sich mit Fachleuten zusammentat und die alten Leute im Ort befragte.

Die verwinkelten Gassen von Santo Stefano sind nicht für dicke Autos gemacht. Aneinandergeschmiegt wie eine verängstigte Schafherde ducken sich die Häuser im Schutz einer erdbraunen Hügelkuppe. Jahrhundertelang waren es denn auch die genügsamen Wolltiere, die hier den Menschen in diesem abgeschiedenen Bergdorf ihr Überleben sicherten. Im Sommer weideten die Schafe auf den kargen Höhen des bis zu 3000 Meter hohen Gran-Sasso-Massivs. Die Winter verbrachten sie in den heimischen Ställen. Das Geblöke ist in Santo Stefano di Sessanio längst verstummt. Aber anders als die meisten Dörfer dieses gebirgigen Landstrichs, der zu den unterentwickeltsten Italiens gehört, wirkt der 100-Einwohner-Ort nicht ausgestorben.

Im Sommer ertönen auf der Piazza Centrale Konzertklänge. Im Palazzo delle Logge finden Dichterlesungen statt. Die Pfarrkirche ist zur Kulisse für pompöse Hochzeitsfeiern geworden, und selbst im Spätherbst streifen Besuchergruppen durch die engen Holpergassen auf der Suche nach Fotomotiven. Ein Original, wie es einem nur selten vor die Kamera läuft, ist beispielsweise Signora Anna: eine Alte mit Kittelschürze und Kopftuch über dem Matronengesicht, das von ehrfurchtgebietenden Falten zerfurcht ist. Gegen elf Uhr vormittags begibt sich die Signora gewöhnlich auf ihren Beobachtungsposten. Zum Glück braucht sie dazu nur den Ohrensessel ein wenig vom Küchenherd weg und näher an das schießschartenartige Südfenster zu rücken. Von dort hat sie dann einen ausgezeichneten Blick auf das Geschehen an der zentralen Piazza.

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Holzfeuer und Armut

Drinnen in ihrer Wohnung verströmen der offene Kamin mit dem angemauerten Backofen sowie die rußgeschwärzten Deckenbalken und Wände immer noch jenen charakteristischen Geruch von Holzfeuer und Armut. Doch Signora Anna stört das nicht. Sie gehört jetzt zu den Gewinnern. Die Waschmaschine, der moderne Gasherd und das erst kürzlich in eine Ferienwohnung umgebaute Nebenhaus beweisen, dass die alten Zeiten auch für sie längst vergangen sind. Außerdem kann Signora Anna auf die Zeugnisse eines entbehrungsreichen Lebens sogar stolz sein. Denn die Gäste, darunter viele betuchte Italiener und Amerikaner, suchen gerade dieses Flair. Zu verdanken haben dies Anna und all die anderen Santo Stefanos Daniele Kihlgren. Vor 15 Jahren erwarb der Industriellensohn aus Mailand in Santo Stefano etliche Häuser. Dann investierte er vier Millionen Euro in die originalgetreue Restaurierung der mittelalterlichen Mauern und verwandelte das Bauerndorf in das Sextantio Santo Stefano di Sessiano. Das Ergebnis nennt sich Albergo Diffuso, ein verstreutes Hotel.

Kihlgren, den hier vom Zimmermädchen bis zum Manager alle nur Daniele nennen, ist Italoschwede. Der blond gelockte Mittvierziger mit dem Jünglingsgesicht hat Philosophie studiert und möchte, wie er sagt, „an einer Region Wiedergutmachung leisten, die jahrhundertelang als Heimat von Briganten und Aufwieglern diffamiert wurde“. Überhaupt redet der Millionärserbe, der sich auch für Hilfsprojekte in Afrika engagiert, nicht gern über Geld und Geschäfte. Viel lieber schwärmt er von seinem Projekt. „Ich wollte den archaischen Charakter dieses Orts erhalten“, sagt Daniele Kilhgren, „und ein Hotel bauen, in dem seine Kultur und Geschichte lebendig bleiben.“ Das ist ihm gelungen. Der Architekt Lelio Di Zio verwirklichte Kilhgrens Idee, indem er sich mit Fachleuten des Volkskundemuseums in der Provinzhauptstadt L'Aquila zusammentat und die Alten im Ort ausfragte. Nach langen Recherchen wurde die historische Bausubstanz so detailgetreu saniert, dass es dem heutigen Hotelgast vorkommt, als seien die ursprünglichen Bewohner der Häuser nur mal kurz zu ihren Schafsherden hinausgegangen.

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Martialische Eisenschlüssel

Horr, im Sextantio für das Marketing zuständig, holt in der Hotelrezeption martialische Eisenschlüssel, um dem Gast den Palazzo delle Logge, die Camera dell Alchimista und die anderen Hotelräume zu zeigen. Der Weg zu den Zimmern, 29 sind es insgesamt, wird zu einem Erkundungsgang durch das malerische Bergdorf. Links und rechts der Via Principe Umberto zweigen schlauchartige Durchgänge ab. Kihlgren hat hier viele Arbeitsplätze geschaffen, indem er darauf bestand, dass bei den Bauarbeiten lokale Firmen den Zuschlag erhielten. Das Hotelpersonal stamme komplett aus Santo Stefano beziehungsweise den umliegenden Orten. „Einige Dorfbewohner“, sagt Andrea Horr, „ließen sich schon vom Sextantio-Erfolg anstecken und eröffneten Restaurants, Bed-and-Breakfast-Pensionen oder Feinkostläden, in denen es lokale Spezialitäten wie Trüffelschafskäse oder Honiglikör zu kaufen gibt.“ Dann drückt sie eine schwere Holztür auf, der Gast betritt die Cantina im Medici-Palazzo und staunt über einen ehemaligen Vorratskeller, der heute gleichzeitig Museum und luxuriöses Hotelzimmer ist.

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An der gewölbten Decke stecken noch die Eisenhaken, an denen die Bewohner früher ihre Salamis und Schinken vor den Mäusen in Sicherheit brachten. Die wollenen Bettdecken sind handgewebt und geschätzte 100 Jahre alt, neben dem Bett steht ein Melkschemel, der jetzt als Bücherablage dient. Die Fußbodenheizung sorgt für angenehme Temperaturen. Die Sanitäreinrichtungen sind von Philippe Starck, und das Licht wird mit Fernbedienung ein- und ausgeschaltet. Ähnlich ist es in allen Gebäuden des Sextantio.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.9.2017)

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