Sportpalast Schachtjor: Gymnastics Donezk

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Der Sportpalast Schachtjor ist der älteste Turnsaal der Stadt Donezk in der Ostukraine. Hier wird trotz des Krieges balanciert und gesprungen, geboxt und gerungen.

Artjom tritt ans Reck, wirbelt seinen Körper auf die Stange, rotiert dreimal um die eigene Achse, grätscht die Beine zu einem V und dreht sich noch einmal, greift in der Luft mit den Händen um, schwingt erneut und springt. Ein schwereloser, fliegender Körper. Für eine knappe Sekunde. Bis er in der Schnitzelgrube landet. Andrej Wladimirowitsch steht neben dem Reck mit prüfendem Blick. Weiter, der Nächste. Wenn der Trainer nichts sagt, war die Übung ziemlich gut. Hunderte Male ist der 15-Jährige so schon unter Wladimirowitschs Augen durchgegangen.

Artjom weiß: Man kann immer besser werden. Man muss immer noch besser werden. Von Montag bis Freitag trainieren Artjom – brünett, kompakt, muskelbepackt – und die anderen Burschen aus seiner Gruppe in einer Turnhalle im Zentrum von Donezk. In der Früh sind es eineinhalb Stunden, am Nachmittag wieder drei. Unterbrochen wird das Training vom Unterricht in der Sportmittelschule. Andrej Wladimirowitschs Grüppchen zieht vom Reck an die Ringe und weiter zum Turnpferd. Dann nehmen die Jugendlichen Anlauf, springen vom Trampolin, stoßen sich vom Sprungtisch ab und schlagen Salti. Es geht um die perfekte Kombination aus Körperbeherrschung, Muskeleinsatz, Eleganz und Aushebelung der Schwerkraft. Das Ziel: Profisportler.

Der Sportpalast Schachtjor, Bergmann auf Deutsch, ist eine Turnhalle im Stalinbarock im ostukrainischen Donezk. Fertiggestellt im Todesjahr Stalins, 1953, war das Gebäude der erste überdachte Sportsaal der Ukraine. Hier trainierten spätere Olympiasieger, und auch heute trainieren Hoffnungsträger: Turner und Akrobaten, Boxer und Schwerathleten. Ein Portal aus sechs massiven Säulen bildet den Eingang, vorbei am Kabuff des Wachmannes und der Garderobiere führt eine Treppe in die Halle. Diese ist gesäumt von weiteren Säulen und hohen Glasfronten auf beiden Seiten. Das Licht fällt auf das speckige Leder der Geräte, das Generationen von Turnern abgenützt haben. Hier ist man nicht der Erste, und man wird nicht der Letzte sein.

Schneller, höher, stärker. Der Sportpalast ist ein Zirkus ohne Zelt, ein Experimentierfeld der sportlichen Höchstleistungen, ein Ort, an dem alles möglich erscheint, wenn man nur hart genug an sich arbeitet. „Schneller, höher, stärker“ lautet sein Wahlspruch. „Champions werden nicht geboren, zum Champion wird man“, steht auf einem Plakat geschrieben. Artjoms Traum heißt Olympia. Doch der Heimatort des 15-Jährigen und die Ereignisse, die in den vergangenen vier Jahren passiert sind, könnten ein größeres Hindernis sein als eine Sportverletzung oder ein Bock auf zu hohen Füßen. Nicht alles ist von der Kraft des eigenen Willens abhängig. Die Politik ist der große Gegner der Nachwuchssportler. Denn Donezk, einst Zentrum der Schwerindustrie des ostukrainischen Donbass und später wohlhabende postindustrielle Metropole, ist heute eine Großstadt, an deren Randbezirken Krieg geführt wird. Es liegt im von den prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet, das sich von der Ukraine losgesagt hat. Die Bewohner leben in einer Grauzone der Unsicherheit. Auch die Sportler. An der Außenwand erinnern Plaketten an zwei Boxer, die im Kampf aufseiten der Separatisten gefallen sind. Der Trainingsplan der Turnhalle ist durch die Kriegswirren durcheinandergeraten. Zur Zeit der schlimmsten Kriegshandlungen im Sommer 2014 war der Saal verwaist. Ein Monat, zwei. Dann begann man wieder mit dem Training. Die Kinder kamen zurück.

Sport ist alles. Heute trainieren wieder Dutzende Kinder und Jugendliche, insgesamt mehr als 500. Die Geräte der Turner stehen in einer Hälfte des Saales, die Akrobaten nutzen eine quadratische Fläche auf der anderen Seite. An den Nachmittagen stehen die Nachwuchsathleten dicht an dicht, einer neben dem anderen; jeder weiß, wo sein Quadratmeter Übungsraum anfängt und endet. Ein achtjähriger Akrobat hält seine Partnerin in den Armen hoch. Vierjährige rollen eine Purzelbaumspur auf den blauen Matten. Eine Trainerin dehnt die Beine eines Buben zum Spagat. Er schluchzt auf. Die neunjährige Sonja übt vier Mal die Woche Kunststücke und weiß jetzt schon, was sie einmal werden will: Trainerin. „Ich weiß nicht, was ich ohne den Sport tun würde“, sagt Artjom.

Die meisten beginnen als Vierjährige. Nicht immer aus eigenem Willen. Die ehrgeizigen Eltern, die den Nachwuchs von der Tribüne aus beobachten, entscheiden über die Zukunft der Kinder. „Wenn du mit sechs beginnst, ist das schon spät“, sagt Sascha, ein hochgewachsener 15-Jähriger mit schwarzem Haar und schmalem Gesicht, der Artjoms Gruppe trainiert. „Bis heute versuche ich die anderen einzuholen.“ Er lässt seinen Körper unter seinen angespannten Armen auf dem Pferd kreisen. Mühelos und elegant sieht das aus. Er hat keine anderen Hobbys. Schokolade darf er essen. Hat er schon einmal Alkohol probiert? Sascha schüttelt ernst den Kopf. „Nur Sportler über 30 dürfen trinken. Wir sind zu jung. Es wäre das Ende unserer Karriere.“ „Trinkst du?“, fragt er Artjom. „Wozu denn?“, gibt der zurück. Mehrere Burschen sagen, dass sie dank des Turnens den Gefahren der Straße entkommen sind.

Ausschluss von Wettkämpfen. Die Politik macht vor dem Turnsaal nicht halt. Die Separatisten haben ihre Fahnen auch hier gehisst: diejenige der Donezker Volksrepublik und natürlich die russische Trikolore. Doch die Zukunft des Spitzensports im Donbass steht auf wackeligen Beinen. Zwar werden jetzt viele lokale Wettbewerbe ausgerichtet, doch ob sie bei Bewerben außerhalb ihrer kleinen Republik jemals werden antreten können, wissen die Jugendlichen nicht. Die Donezker Volksrepublik, die sogenannte DNR, ist von keinem Staat der Welt anerkannt. Und das bedeutet faktisch den Ausschluss von internationalen Wettkämpfen.

Jewgenij Schyrschow, 37 Jahre alt, will die Zukunft des Spitzensports in der Region optimistisch sehen. Der bullige Mann leitet seit 2015 den Verband für Sport­akrobatik in der Donezker Volksrepublik. Die Wände seines Kämmerchens im Untergeschoß des Sportpalastes sind geschmückt mit Urkunden und Medaillen – vom Championat der DNR über Wettbewerbe in Russland und sogar in China und Aserbaidschan. Dort sei man unter neutraler Flagge angetreten, sagt er, man habe sich mit den Funktionären abgesprochen. „Wir haben sehr viel mehr Sportbegeisterte als vor dem Krieg“, sagt Schyrschow. „Die Förderung von Sport ist ein grundlegendes Element beim Aufbau eines jungen Staates.“ Tatsächlich nutzt die politische Führung sportliche Erfolge, um sich selbst damit zu schmücken – und damit die Zukunft der Volksrepublik zu untermauern. Der Sieg des Einzelnen ist hier immer auch der Sieg des Gemeinwesens.

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Tipp

„Grauzone. Eine Reise zwischen den Fronten im Donbass“ von Fotograf Florian Rainer und „Presse“-Journalistin Jutta ­Sommerbauer, ­Bahoe Books.

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