„Future Library“: Literatur mit langem Atem

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Ein wachsender Wald, eine Geschichtensammlung, eine Bibliothek für die Zukunft: das „Future Library“-Projekt von Katie Paterson in Oslo.

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Wenn Literatur neue Szenarios für das Leben auf der Welt entwirft, nennt man sie Science-Fiction. Wenn Menschen über die Grenzen ihres Lebens hinaus Entwürfe für die Gesellschaft vorlegen, ist von visionärem, nachhaltigem Denken die Rede. Und damit steht auch schon das begriffliche Spannungsfeld fest, in dem sich das im Sommer dieses Jahres in Oslo initiierte „Future Library“-Projekt der schottischen Künstlerin Katie Paterson ansiedelt.

Der Aspekte kennt diese Bibliothek für die Zukunft einige. Zunächst einmal gibt es da die ökologische Seite: Paterson hat in einem Waldgebiet bei Oslo 1000 Setzlinge gepflanzt, die nun hundert Jahre Zeit haben, um sich zu voller Größe zu entfalten. Im Jahr 2114 werden sie gefällt und zu Papier verarbeitet werden, das für die finale Etappe der „Future Library“ notwendig ist. So werden nämlich während des kommenden Jahrhunderts insgesamt hundert Autoren, einer pro Jahr, eingeladen werden, Texte für eine 2114 erstmals gedruckte Anthologie zu verfassen. Die Textsorte, der Inhalt, die Länge stehen jedem der Beiträger frei. Sogar das Komitee, das die Schriftsteller auswählt, wird keinen Einblick in die entstehenden Texte erhalten: Diese werden bis zur Drucklegung unter Verschluss gehalten, und zwar in einem von Katie Paterson eigens geschaffenen Raum in der Stadtbibliothek von Oslo, die 2018 im Hafenviertel der norwegischen Hauptstadt eröffnet werden soll.

Unsicherheit und Zuversicht. So viele Verbformen im Futurum, wie man für die Beschreibung des faszinierenden Konzepts von Katie Paterson braucht, verwendet man beim Schreiben sonst selten. Und dieses gehäufte Futurum macht das Projekt der schottischen Konzeptkünstlerin auch so spannend: Keiner, nicht einmal sie selbst oder die Jurymitglieder, die für die Auswahl der Autoren zuständig sind, weiß heute, in welcher Form die „Future Library“ am Ende das Licht der Welt erblickt. Beziehungsweise, in welcher Welt sie überhaupt das Licht erblicken soll.

Die erste Schriftstellerin, die eingeladen wurde, einen Text für die Anthologie zu verfassen, ist die Kanadierin Margaret Atwood, selbst für ihre vorausschauenden Visionen bekannt. In einer Reaktion auf die Einladung zur „Future Library“ soll Atwood sich erfreut gezeigt haben, um sogleich zu ergänzen: „Endlich einmal ein Projekt, das voraussetzt, dass es die Menschheit in hundert Jahren überhaupt noch gibt.“ Für Paterson ist Atwood eine ideale Beiträgerin, weil sie in ihrem Œuvre die zentrale Frage stelle, die implizit auch die „Future Library“ aufwirft: „Sie hat so viel zu sagen über uns Menschen, die wir heute leben, aber auch über die Zukunft, die wir als Spezies für uns vorbereiten.“

Viele Fragen umgeben also das Projekt, wenn sie auch – das ist das Besondere – durch Patersons Anstrengungen und die optimistische Grundhaltung aller Beteiligten durch und durch positiv gefärbt sein sollen. „Als mir zum ersten Mal die Idee für ‚Future Library‘ kam, war mir sofort bewusst, dass ich das Ende nicht erleben würde – wie die meisten von uns, die heute auf der Welt sind. Und es ist auch ein wichtiger Bestandteil des Projekts, dass ich es selbst nicht vollendet sehen kann; die Arbeit wurde für eine unbekannte künftige Generation geschaffen.“

Während es also unklar ist, welche potenziellen Leser die von Paterson initiierte Textsammlung erreichen kann, ist auf einer literaturimmanenten Ebene noch überhaupt nicht abzusehen, ob das gedruckte Buch, das am Ende entstehen soll, in hundert Jahren noch einen vergleichbaren Stellenwert hat wie heute. „Ich bin mir eigentlich sicher, dass das gedruckte Buch überleben wird. Andere Formate, andere Medien werden wichtiger werden, das Buch, wie wir es kennen, aber nicht verdrängen“, meint Kristin Danielsen. Sie leitet seit Kurzem die Stadtbibliothek von Oslo und ist somit an den Vorbereitungen für den Umzug der Kulturinstitution in ihre neue Heimat unweit des Osloer Hafens und auch des bekannten Operngebäudes maßgeblich beteiligt. „Was ich an Katie Patersons Projekt mag, ist die Tatsache, dass unsere Bibliothek, die wir übrigens schon seit Jahren als unsere ‚Future Library‘ bezeichnen, von Anfang an mit einer kleinen Bibliothek-Keimzelle schwanger gehen wird.“ Damit spielt Danielsen auf jenen Raum an, in dem Besucher Patersons Kunstprojekt vorgestellt wird und in dem, ohne dass man sie einsehen kann, alle Texte unter strenger Geheimhaltung verwahrt werden.

Kein bloßer Verwahrungsort. Dass aber Menschen noch gedruckte Bücher lesen werden, dass es weiterhin Prosa-Langformen wie den Roman geben wird, steht für Kristin Danielsen fest. „Natürlich werden sich viele Dinge verändern, und wenn man sich anschaut, wie rasant die Veränderungen in den letzten Jahren vonstatten gegangen sind, ist vieles noch nicht abschätzbar.“ Einer Herausforderung habe sich auch die Bibliothek selbst zu stellen, die es nicht einfach haben dürfte zu überleben, als bloßer Ort, an dem Bücher verwahrt werden. „Wenn wir unsere Aufgabe so definieren“, so Danielsen, „haben wir schon verloren. Auch ein Online-Buchhändler wie Amazon tut sich leichter, alle Bücher der Welt anzubieten, als wir. Die Aufgabe der Bibliothek muss umfassender sein.“

Darum möchte Danielsen ihre Einrichtung und das neu geschaffene Gebäude von Anfang an als einen Ort der Begegnung, des Wissensaustausches und Informationsflusses verstanden wissen: „Wir müssen den Menschen Zugang zu allen relevanten Informationen der Gegenwart geben, und zwar in allen Medien, die von Bedeutung sind.“ Eher als das wahllose Archivieren und Sammeln wird auch im Bibliothekskontext ein selektives Vorgehen wichtiger werden, so Petersen: „Es geht darum, Orientierung schaffen und in mehrerlei Hinsicht unseren Nutzern Zugang zu relevanten Informationen zu bieten.“

Wenn im Jahr 2114 die von Katie Paterson initiierte Textsammlung erstmals in gedruckter Form vorliegen wird, werden also hoffentlich noch immer ausreichend literaturaffine Menschen in die Bibliothek kommen, um den Ausgang dieses wahrhaft nachhaltig angelegten Projekts bestaunen zu können. Vielleicht ist ja auch jemand dabei, der schon heute im lesefähigen Alter ist. Immerhin ist der erste Mensch, der 200 Jahre alt werden soll, angeblich schon geboren worden.

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