Reisespiel: Die Seele lässt die Würfel rollen

Eine spielerische Reise mit dem Dampfschiff nach Dordrech.
Eine spielerische Reise mit dem Dampfschiff nach Dordrech.(c) Collection Ville de Rambouillet, The Trustees oft he British Museum / Brandstaetter Verlag
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Der Spieleforscher Ernst Strouhal folgt in einem neuen Buch den Motiven und Themen des Reisespiels.

Beinah passiert dem Spieleforscher das, was den Menschen blüht, die spielen: das Hinsinken, das Hineingezogenwerden, in den Sog, der schuld ist, dass Spieleabende nicht enden wollen, Menschen stundenlang Joysticks umklammern und Münzen in Automaten werfen. Wenn Ernst Strouhal die Besonderheiten der alten Spielbretter erklärt, die er in dem Buch „Die Welt im Spiel“ gesammelt hat, gerät er auch fast in so etwas wie einen „Flow“. Schließlich haben ihn das Spiel und die Spiele seit Jahren auch nicht mehr losgelassen – als Gegenstand der Forschung. Ein Sog, der süchtig machen kann. Das Spiel zieht alle in das Niemandsland zwischen Fantasie und Realität, das trotzdem in beiden Welten wurzelt: „Man muss vergessen, dass man spielt. Und sich gleichzeitig dessen bewusst sein.“ Sonst wäre das Spiel allzu grausam: ständig rausgeboxt zu werden, zurückgeschleudert, eingekerkert und sonst wie malträtiert. Spielen fasziniert Spieler ebenso wie Kulturwissenschaftler und Tiefenpsychologen. Wer spielt wen? Der Spieler das Spiel? Oder doch umgekehrt? „Das Spiel suspendiert von den Regeln der Gesellschaft, von den Instanzen des Über-Ich. Deshalb macht es auch so Spaß“, sagt Ernst Strouhal. So sehr, dass auch die Game-Industrie ihren Spaß hat: Sie macht heute mehr Umsatz als Film- und Musikindustrie zusammen.

Illustrativ. Das „Grand Jeu de la Tour Eiffel“ aus dem Jahr 1889.
Illustrativ. Das „Grand Jeu de la Tour Eiffel“ aus dem Jahr 1889.(c) Collection Ville de Rambouillet, The Trustees oft he British Museum / Brandstaetter Verlag

„Spiele sind eine grundlegende Kulturtechnik des Menschen“, sagt Strouhal, Professor für Kulturwissenschaften an der Universität für angewandte Kunst, „und immer auch Echo und Lautsprecher des Zeitgeistes.“ In früheren Zeiten waren nicht Screens die eskapistischen Schlupflöcher in Gegen- und Parallelwelten. Sondern die Spielbretter samt schicksalhaftem sowie narrativem Überbau in Form von Würfeln und Ereignisfeldern. Der Typus „Gänsespiel“ wurde in Europa im 18. Jahrhundert populär. Der Parcours mit eingesprenkelten Ereignisfeldern war meist 63 Positionen lang. Deshalb hat Strouhal justament 63 Spiele ausgesucht, auf seiner eigenen Recherchereise durch das Universum der Reisespiele – für das Buch „Die Welt im Spiel“, erschienen im Brandstätter-Verlag.

Spiralförmig. Da schlängeln sich thematische Stränge, narrative Fäden und großteils auch didaktische Inhalte durch unterschiedlichste Szenarien: Landschaften, Welten, Städte, Mikrokosmen, über Berg und Tal, durch Zeit und Raum oder schlicht durch das Leben. Es sind Karrierewege, Nordpol-Expeditionen, Weltraummissionen, Dampfschiffsfahrten, Straßennetze und Dschungelpfade, die auf den Spielbrettern dicht illustrierte Wimmelbilder ausbreiten. Gezeichnet haben sie meist anonyme Illustratoren, Künstler oder Kartografen. Ihre Bilder erzählen stets von den historischen gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sie entstanden sind.

Archiv im Web. Jenny Kyle hat für Allaboutfunandgames.com fast 2000 alte Spiele zusammengetragen.
Archiv im Web. Jenny Kyle hat für Allaboutfunandgames.com fast 2000 alte Spiele zusammengetragen.(c) Allaboutfunandgames.com

„Wir wollten ein Buchobjekt schaffen, das gleichzeitig auch ein Spielobjekt ist“, erzählt Strouhal. Das Buch selbst kann man somit sprichwörtlich spielerisch entdecken. Die 63 Felder der „Wiener Serpentine“, dem Inhaltsverzeichnis, verzweigen in unterschiedlichste kulturwissenschaftliche Hintergründe des jeweiligen Spiels. Und zu seiner Spielmechanik, seinen Regeln. Strouhal hat sie mit seinem Team allesamt recherchiert und rekonstruiert. Nun kam man mit dem Würfel dem Feuerwehrschlauch der niederländischen Brandschutztruppe genauso folgen wie den Seewegen der Piraten zwischen den Westindischen Inseln. Oder auch dem waghalsigen Weg eines „Wiener Thurmkraxlers“ auf den Wiener Stephansdom. Eine wahre Begebenheit: Anlässlich des Geburtstags von Kaiser Franz Joseph wollte der Turmkraxler eine schwarz-gelbe Fahne ganz oben wehen lassen. Das Spiel folgt bildlich und narrativ der riskanten Klettertour bis hin zum Sprung ins Sprungtuch der Feuerwehr. „Keine Kindheit, keine Gesellschaft, keine Gemeinschaft ist ohne Spiele denkbar. Das Spiel ist eine ,Als ob‘-Welt, ein magisches Eintreten in einen Zauberzirkel“, sagt Ernst Strouhal. „Spiele sind genauso konstitutiv für eine Gesellschaft wie das Erzählen. Sie vereinfachen die Welt und bieten uns Freiraum, der zugleich Zerr- und Wunschspiegel unserer Gesellschaft ist.“

Tipp

„Die Welt im Spiel. Atlas der spielbaren Landkarten.“ Von Ernst Strouhal. Erschienen im Brandstätter-Verlag.

Sammelleidenschaft

An die 2000 Spiele besitzt Jenny Kyle nach eigenen Schätzungen, ein genaues Register führt sie nicht. Der Auslöser für ihre Sammelleidenschaft war die Teilnahme an einer Auktion vor etwa zwölf Jahren: „Seit damals haben es mir Spiele aus dem 19.  Jahrhundert besonders angetan. Das erste hieß ,Cock Robin‘ und entstand 1860. Als ich mir die Details auf dem Spielbrett genauer ansah, verliebte ich mich in die große Aufmerksamkeit, mit der man sie gestaltet hatte.“ Um ihre ständig wachsende Sammlung mit anderen zu teilen, lancierte Kyle die Website Allaboutfunandgames.com. Das Erlernen der Spielregeln ist für sie übrigens Teil ihres Sammelhobbys: „Natürlich, ich lerne jedes Mal die Regeln, und ich hole auch oft etwas aus meinem Fundus, um es mit meiner Familie zu spielen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mir nicht alle Regelwerke meiner 2000 Spiele gemerkt habe.“ (dk)

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