Die Ich-Pleite: Moralisches Dilemma

Weihnachten ist jetzt schon drei Wochen vorbei, aber ich weiß immer noch nicht, was ich mit dem Weihnachtsgeschenk meiner Putzfrau machen soll.

Es ist ein goldener Hirsch, in dessen Rücken ein Loch für ein Teelicht eingelassen ist. Manche Menschen würden sagen, das ist ein Kerzenständer. Für mich ist es ein moralisches Dilemma. Da hat meine polnische Putzfrau mit ihrem kranken Kind und dem arbeitslosen Ehemann Zeit, Geld und Mühe auf sich genommen, um mir etwas Schönes zu schenken, und ich bin nicht dankbar! Im Gegenteil, ich denke seit 23 Tagen nur daran, wie ich das Ding von meinem Küchentisch entfernen kann. Denn immer wenn ich den Kerzenhirsch erblicke, erfasst mich eine abgrundtiefe Traurigkeit. Ich sehe eine alte Jungfer, deren Messie-Wohnung eines Tages von entfernten Verwandten ausgeräumt wird. Sobald sie den goldenen Hirsch sehen, schütteln die entfernten Verwandten den Kopf. „Die Großtante hatte den Geschmack einer kitschversessenen Jägerin. Kein Wunder, dass sie nie einen Mann gefunden hat!“ Sicher, ich hatte Pläne. Ich wollte den goldenen Hirsch ins oberste, hinterste Küchenkastl verbannen. Aber das würde nichts nützen, weil ich ja wüsste, dass dort oben ein Kerzenständer sitzt und hämisch auf mein Ableben wartet. Inzwischen habe ich meinen Lebensmittelpunkt unter die Bettdecke verlegt. Meine Therapeutin sagt, ich habe eine „reaktive Depression“. Heute besucht mich eine Freundin und fragt mich, woher ich den goldenen Hirsch habe. „So einen habe ich voriges Jahr der Agnieszka zu Weihnachten geschenkt.“ „Der Agnieszka?“ „Ja, unserer Agnieszka! Der Putzfrau, die du mir vermittelt hast!“ Zwei Sekunden später ist der Hirsch im Müllsack. Und der Müllsack vor der Tür. Endlich! Das neue Jahr kann beginnen!

Schaufenster.DiePresse.com/DieIchPleite

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