Randerscheinung: Beim Zahnarzt

Wenn Menschen über Zahnärzte sprechen, dann kaum einmal Gutes – außer über das glückliche Entrinnen.

Denn auf Erden kann Menschen überhaupt nichts mehr trennen als jene, die gerade einen Zahnarztwartesaal verlassen, weil sie es schon hinter sich haben, und jene, die so tun, als würden sie in einer der dort aufliegenden alten Zeitschriften lesen, weil sie den Termin noch vor sich haben. Dabei hat der Zahnarzt auch einen riesengroßen Vorteil, der nur selten thematisiert wird: Man muss nichts reden. Bei der Wahl meines Friseurs waren mir dessen Schnittkünste immer schon ebenso wichtig wie dessen Fähigkeit, eben auch einmal nichts zu sagen. Und das nicht erst, seit das aussichtslose Rückzugsgefecht meines Haupthaares begonnen hat und das Schneiden tatsächlich eine eher untergeordnete Rolle spielt. Beim Zahnarzt im Allgemeinen und bei der Mundhygiene im Besonderen ist der moderne Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wie sonst nirgends während so einer Lebensspanne im eingehenden 21. Jahrhundert. Fünfundvierzig geschlagene Minuten, in denen man gar nichts tun kann. Nicht reden, nicht schauen, trotzdem ist an Schlaf ist nicht zu denken, selbst das Schlucken macht Pause, kein Griff zum sonst immer rettenden Mobiltelefon ist möglich. Nicht einmal in der Economyclass ist der Handlungsspielraum derart eingeschränkt. So liegt man da, lauscht dem Knirschen in der eigenen Mundhöhle, zuckt hie und da zusammen, wenn der Ultraschallreiniger einen Nerv touchiert, und hängt abgesehen von einigen Ausspülunterbrechungen ungestört seinen Gedanken nach. Hier gilt: Alles muss, nichts kann – das ist auch irgendwie befreiend. Wenn auch nicht ganz so befreiend wie das Verabschieden beim Verlassen der Praxis.

Schaufenster.DiePresse.com/Randerscheinung

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