Randerscheinung: "Wer ist Gregor Samsa?"

Kafka im Kindergarten.

Die Stadtzeitung liegt aufgeschlagen auf dem Küchentisch. Auf der Zeichnung von Tex Rubinowitz ist ein Käfer zu sehen, der sagt: "Gregor Samsa hat's geschafft und ich?" Der Jüngste schaut die Zeichnung an, liest den Text und fragt: "Wer ist Gregor Samsa?" Nun bin ich zwar grundsätzlich der Meinung, man kann gar nicht früh genug damit beginnen, sich mit Weltliteratur auseinanderzusetzen, aber Kafka im Kindergarten? "Das ist eine Figur in einer Geschichte, die du nicht kennst", sage ich und hoffe auf abebbendes Interesse. Vergeblich. "Was für eine Geschichte?" "Das ist ein bisserl kompliziert, da wacht ein Mann in der Früh auf und merkt, dass er sich langsam in einen Käfer verwandelt." "Was soll daran kompliziert sein?" "Na ja, kompliziert eh nicht wirklich, er weiß halt nicht, warum, und kennt sich nicht aus." "Und wie geht die Geschichte dann weiter?" "Er verwandelt sich in einen Käfer", sage ich, weil manchmal nach kurzen präzisen Antworten auch einfach ein "Aha" und das nächste Thema folgen. "Das ist aber eine sehr kurze Geschichte, sicher nicht einmal eine Seite." "Nein, schon länger, das wird halt recht genau beschrieben." "Und wann verwandelt er sich dann wieder zurück?" "Ich fürchte, gar nicht mehr." "Das ist dann aber keine schöne Geschichte." "Nein, es ist halt ein Märchen, die sind oft ziemlich gruselig, oder?" Der Jüngste schaut wieder die Zeichnung an, überlegt und fragt: "Und der Käfer auf der Zeichnung, ist das der Käfer, der vorher ein Mensch war, oder ein anderer Käfer?" "Wenn ich das richtig verstehe, ist das ein anderer Käfer, der sich gern in einen Menschen verwandeln würde, also wie dieser Gregor Samsa, nur umgekehrt." Der Jüngste lacht: "Das finde ich schon lustig." Und vor dem Einschlafen lese ich ihm dann aus dem "Prozess" vor...

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