Andrej Kurkow: "Und dann bin ich Patriot geworden"

Andreï Kourkov au Salon du livre de Paris lors du débat L'humour comme exutoire.
Andreï Kourkov au Salon du livre de Paris lors du débat L'humour comme exutoire.Georges Seguin (Okki)
  • Drucken

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow hat die jüngsten Ereignisse in seinem Land genau beobachtet. Im Gespräch mit der "Presse am Sonntag" erklärt er, warum man aus der Geschichte nichts gelernt hat.

Sie sind ein Kind der Sowjetunion – geboren in Leningrad –, und heute leben Sie in Kiew, schreiben auf Russisch und haben einen ukrainischen Pass. Können Sie die Sowjetnostalgie verstehen?

Andrej Kurkow: Ja, aber nicht als etwas Normales, sondern als eine psychische Krankheit. Die Menschen träumen von der Zeit ihrer Jugend. Sie erinnern sich an die alten Preise für Wodka, Zigaretten und Wurst, an alles, was im Vergleich zu heute positiv war.

In manchen Ihrer Bücher blicken Sie in die Zukunft. Wenn Sie eine Prognose wagen, wie wird die Ukraine in 20 Jahren aussehen?

Falls wir wirklich einen Bürgerkrieg bekommen, werden wir 20 Jahre einen Partisanenkrieg führen, der damit enden wird, dass die West- und Zentralukraine Polen bitten werden, temporär als Teil von Polen anerkannt und verteidigt zu werden. Der Osten wird dann Russland einverleibt.

Was haben die aktuellen Ereignisse in der Ukraine für Ihr Leben bedeutet?

Ich war über mich selbst überrascht. Ich bin ein Kosmopolit, war immer gegen Berufspatriotismus und habe mich nie patriotisch verhalten. Und dann bin ich Patriot geworden. Das hat mein Leben verändert. Ich bin jetzt ernster und weniger lustig, und ich möchte nicht lange so bleiben.

Was ist eigentlich geschehen in der Ukraine? Eine Revolution, ein Putsch von rechten Ultranationalisten oder das nachgeholte Jahr 1989?

Das ist eine Revolution. Proteste zielen darauf ab, eine Regierung zu etwas zu bewegen. Damit hat alles begonnen. Aber weil die Regierung reagiert hat, wurde es eine Revolution gegen diese Regierung.

Könnte man sagen, dass die Sowjetunion erst jetzt zu ihrem Ende gekommen ist?

Ja, das kann man sagen. Aber der bekannteste Verfechter der Sowjetunion, Herr Putin, möchte, dass die Sowjetunion bestehen bleibt, und das ist der Hauptgrund für die Okkupation eines Teils der Ukraine.

Geht der Bruch zwischen Ukraine und Russland auch durch die ukrainische Gesellschaft?

Nicht wirklich. Hätte die Ukraine mehr prorussische Aktivisten, bräuchte Russland nicht seine eigenen Faschisten und Neonazis schicken. Die Ostukraine hat nicht genug prorussische Aktivisten, die Russen müssen ihre eigenen Proteste organisieren und als ukrainische ausgeben.

Ist das vorbei?

Nein. Es gibt genug schlafende Zellen von Russen und prorussischen Aktivisten, die nur auf ein Signal aus Moskau warten, um zwischen jetzt und der Präsidentenwahl am 25. Mai eine neue Destabilisierung zu verursachen und die Wahl zu stören.

Wiederholt sich gerade die Geschichte?

Wie 1939? Ja, sicher. Das ist die gleiche Geschichte wie mit den Sudeten. Und ich vergleiche auch bewusst Putin mit Hitler. Beide haben ausreichend klar gemacht, was ihre Absichten sind.

Wir lernen nichts aus der Geschichte?

Eigentlich nicht. Die Westeuropäer sind sicher, dass Russland nicht bis zu ihnen gehen wird. Und das Schicksal der neuen europäischen Staaten kümmert sie nicht. In Wahrheit sind sie nicht bereit, irgendetwas zu machen. Die europäischen Sanktionen zeigen das.

Was ist bis zu den Wahlen zu erwarten?

Putin wird alles tun, um die Wahlen zu verhindern. Er träumt von einem Bürgerkrieg in der Ukraine. Prorussische Aktivisten und russische Einheiten werden diesen Krieg beginnen und nach den ersten 100 oder 200 Toten wird er seine reguläre Armee schicken, um Ruhe herzustellen und die Russischsprachigen „zu beschützen“. Dann wird er nach Kiew ziehen, um eine neue Regierung zu installieren, und mit dieser unterschreibt er einen Vertrag über Kooperation und Freundschaft. Darin erklärt sich die Ukraine glücklich, dass die Krim nicht mehr zu ihr gehört. Danach gibt es keinen Grund mehr für Sanktionen oder Streit zwischen Russland, EU oder USA.

Eine befreite, selbstbestimmte, nicht von Russland dirigierte Ukraine – ist das ein pro-europäischer, westlich orientierter Staat?

Die Ukraine hofft, ein Teil Europas zu werden. Man sollte nicht vergessen, dass im Osten besonders viele Menschen unter russischen Handelsschikanen gelitten haben und längst nicht mehr prorussisch sind. Wir erleben die Geburtsstunde der ukrainischen Nation, ironischerweise hervorgebracht durch Janukowitsch und Putin.

Was kann Europa tun?

Am einfachsten wäre es, die Märkte zu öffnen und ukrainischen Unternehmern beizubringen, zivilisiert mit Europa zu handeln. Natürlich bleibt die Ukraine ökonomisch sehr von Russland abhängig. Umso dringender sind Reformen. Und Europa muss offen für die Ukraine sein und das immer wieder unter Beweis stellen, sei es bei Visa oder dem Kulturaustausch.

Findet Ihr Plädoyer in Europa Verständnis?

Polen und Litauen bleiben die einzigen Länder, die wirklich helfen wollen.

In der neuen Regierung sind auch rechte Kräfte wie die Swoboda-Partei. Es herrscht große Sorge im Westen über Nationalisten und Rechtsextreme in der Ukraine. Zu Recht?

Die Swoboda-Partei hat viele Probleme, sie wird Wähler an den Pravyi-Sektor verlieren, falls der sich in eine Partei wandelt. Interessant ist, dass die Mehrheit der Leute des Pravyi-Sektors aus der Ostukraine kommen. 60 Prozent sind russischsprachig, bis zu 30 Prozent sind ethnische Russen. Russland schickt uns Rechtsextreme und beherrscht die Berichterstattung.

Gibt es seriöse politische Kräfte?

Es ist, wie es immer war: Wir haben nur Persönlichkeiten, aber keine Parteien. Die Vaterlandspartei von (Ex-Ministerpräsidentin Julia, Anm.) Timoschenko ist genauso ohne Ideologie wie die Partei der Regionen (von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch, Anm.).

Ist es klug von Timoschenko, wieder für die Präsidentschaft zu kandidieren?

Das ist das Dümmste, das sie machen kann. Aber sie ist ehrgeizig, sie will, dass der Premier und Präsident aus der gleichen Partei kommen, damit sie beide Jobs machen kann. In diesem Fall kehren wir zu einer Diktatur zurück.

In Ihren Büchern beschreiben Sie oft tragische Situationen mit ironischer Leichtigkeit. Wenn Sie die heutige Situation sehen, ist Ihnen der Humor geblieben?

Ich versuche, ein bisschen Humor zu finden. Aber es ist sehr schwer. Lustiges passt heute nicht.

Gibt es dennoch etwas, das Sie zuversichtlich stimmt?

Das Volk. Die Menschen waren bereit, für eine bessere Ukraine zu sterben. Auf dem Maidan habe ich gespürt, dass die Menschen die Angst abgeworfen haben. Das war ein Schock.

Aber wenn Putin vom Bürgerkrieg träumt, steht das Schlimmste vielleicht noch bevor. Sind Sie beunruhigt?

Die Ukraine kann auf keine wirkliche Hilfe zählen. Es gibt kein Land, das die Ukraine verteidigen wird. Nur mit sehr starker Unterstützung der USA kann die Ukraine überleben.

Sollte die Ukraine in die Nato aufgenommen werden?

Die Nato wird die Ukraine nicht aufnehmen, das wurde schon 2008 klargemacht.

Und die EU?

Bis die Ukraine dafür bereit ist, wird die EU nicht mehr existieren.

Wenn die Situation bleibt, wie sie ist, was bedeutet das für Ihre Kinder und deren Generation?

Ich möchte nicht, dass meine Kinder die Ukraine verlassen. Denn das würde bedeuten, den Sieg von Putin akzeptieren zu müssen. Und ich bin nicht bereit, diese Situation als normal zu akzeptieren.

Ist die Krim verloren?

Die Krim ist verloren bis zum Tod Putins. Dann kommt in Russland ein neuer Führer. Er wird versuchen, das Image des Landes zu verbessern – und ohne die Krim wird das nicht möglich sein.

Ist Putin dauerhaft unangefochten in Russland?

Zurzeit ist er sehr stark, aber die wirtschaftliche Situation ist schwierig. Das ist eine große Gefahr für ihn, denn je heikler die Situation, desto mehr braucht er einen Krieg. Und je älter er wird, umso mehr wächst sein Bestreben, in die Geschichte einzugehen. Als jener, der versucht hat, die Sowjetunion wieder zu errichten.

Steckbrief

Andrej Kurkow, geboren 1961 im damaligen Leningrad, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und ist einer der erfolgreichsten ukrainischen Autoren der Gegenwart. Kurkow schreibt auf Russisch, seine Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Im deutschen Sprachraum gelang ihm mit „Picknick auf dem Eis“ der Durchbruch, mit „Die letzte Liebe des Präsidenten“ überzeugte er auch frühere Kritiker.

Derzeit arbeitet er an einem Tagebuch über die drei Monate auf dem Maidan, wobei er eigene Fotos und Notizen zusammenführt. Das Werk erscheint im April auf Deutsch und Französisch.

Herr Kurkow, darf man Sie auch fragen...


1...wie ihre Kinder die Revolution erlebt haben?
Unser Sohn Theo, 15, kam eines Nachts zu meiner Frau und sagte: „Ich muss auf dem Maidan sein.“ Meine Frau antwortete: „Wenn du 18 wärst, würde ich dich fragen, warum du nicht dort bist. Aber weil du 15 bist, gehst du wieder ins Bett.“

2...ob Sie bedroht worden sind?
Es gab einen Zwischenfall mit meiner Tochter, die allein zu Hause war, als vier Leute – offenbar vom Geheimdienst – vor unserer Tür waren. Ich schnappte mir den Anführer des Automaidan, er kam mit einer Schlägertruppe und sorgte dafür, dass uns nichts geschah.

3...ob Sie daran gedacht haben, das Land zu verlassen?
Einmal fragte meine Frau, ob sie mit den Kindern nach London soll. Aber wir entschieden uns dagegen.

4...was Ihre Frau zu Ihrem Engagement auf dem Maidan gesagt hat?
Sie fragte, ob ich unbedingt James Bond spielen müsse.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.